Mittwoch, 31. Oktober 2012

Mal eben


Frau Winter machte die Augen auf. Sie konnte sie nicht ganz aufmachen, dafür war sie zu schwach oder zu müde. Sie fühlte sich eher müde, als schwach aber mit Sicherheit war sie auch schwach, denn sie konnte sich kaum noch bewegen, obwohl sie es vor einigen Tagen noch getan hatte.
Die Schwester stand am Fußende ihres Bettes, vielleicht war es auch dieser Pfleger. Sie schaute nur auf sie herab. Wahrscheinlich machte sie ein zur Situation passende Miene. Vielleicht war sie wirklich traurig oder sogar erschrocken über den raschen Wandel, der sich in Frau Winters Gesicht vollzogen hatte.
In den letzten Tagen hatte eine Schwester ihr noch die Haare gekämmt, weil sie früher gerne gut ausgesehen hatte, zumindest fein. Frau Winter hatte genickt, als sie fragte, ob das so gut ist. Sie konnte im Spiegel nicht viel erkennen, nur eine Frau die im Bett lag aber sie hatte andere Gedanken im Kopf. Der Winter stand vor der Tür und wenn sie sich recht erinnerte, musste dann dafür gesorgt werden, dass genug zu Essen da war – im Keller. Sie wollte sich die Lage mal ansehen, da unten, wenn es ihr wieder besser ging.
Sie fühlte sich trocken an im Gesicht. Vielleicht müsste sie sich mal wieder eincremen. Irgendjemand müsste sie ins Badezimmer schieben aber nur wenn es nicht allzu sehr weh tat. Sie würde ja sehen, es muss nicht unbedingt heute sein.
Eigentlich hatte sie etwas Angst vor dem was auf sie zu kam. Es ging auf einmal so verdammt schnell. Ihren Sohn wollte sie auf jeden Fall noch einmal sprechen. Nur sehen würde ihr sogar ausreichen. Egal wie. Sie musste ihn wohl möglich noch zum Einkaufen schicken, sie hatte das sichere Gefühl, dass einige extra Dosen aus dem Kaufhaus noch nötig seien. Bald würde es schneien, der Winter stand vor der Tür. Sie würde sich die Lage im Keller noch einmal ansehen müssen.
Ihr Gesicht war grau. Vor wenigen Tagen hatte sie noch rote Wangen gehabt. Sie hatte im Garten gearbeitet, musste ja alles für den Winter gemacht werden. Später ist der Boden zu hart. Die Augen fielen in den Kopf hinein, die Wangen auch. Fast so, als würde jemand die Luft aus ihren Kopf pumpen, wie aus einem Ball. Überhaupt traten an den unmöglichsten Stellen ihre Knochen zum Vorschein. Sie wäre gerne ins Bad gefahren worden, um sich etwas frisch zu machen, so konnte sie doch ihre Gäste nicht empfangen. Ihr Sohn wollte kommen und seine Frau und die Kinder. Er müsste noch einkaufen gehen aber darum würde sie ihn erst morgen bitten.
Die Luft war nicht so gut in dem Zimmer. Sie musste tief einatmen und hatte sie gerade überhaupt geatmet? Jetzt hatte sie wirklich Angst. Sie würde doch nicht vergessen zu atmen, oder? War es denn schon soweit? Sie hatte ansonsten keine Schmerzen, nur die Angst tat im Moment etwas weh. Jemand nahm ihre Hand in die seine. Frau Winter hatte die Schwester vollkommen vergessen. Sie lächelte ihr zu aber sie konnte sie nicht mehr sehen. Sie sah aber das Zimmer, sie lag in diesem vollautomatischen Bett in der ersten Etage. Draußen schien die Sonne und es war tatsächlich Winter. Es schneite. Sie konnte ihre Augen nicht mehr aufmachen. Das Sonnenlicht flackerte in Strähnen auf den Wänden im Zimmer. Da stand ihr Sohn mit seiner Frau und er hielt ihre Hand. Aber auch die Schwester war da. Frau Winter hatte sich nicht getäuscht.
Ja, lebt wohl, Kinder. Sie saß auf der Wand an der bunte Bilder hingen. Kalender mit Früchten für jeden Monat des Jahres, ein Bild einer kleinen Katze und eingerahmte Fotos. Etwas zog sie langsam nach oben zur Decke aber das war schon in Ordnung. Sie hatte keine Angst runter zu fallen, es passierte alles mit Ruhe. Nur ihr eigener Körper überraschte sie, als sie ihn im Bett unter sich liegen sah.
Die Schwester nickte. Sie sagte wohl so etwas wie: „Ja, sie ist gegangen.“ und trat einen Schritt zurück. Ihr Sohn hielt noch immer ihre Hand. Er weinte nicht oder so, er schien nur erleichtert und Frau Winter war froh darüber.
Dann sah sie nicht mehr was zur Rechten oder Linken passierte. Dort wurde es zunehmend dunkler und auch unten oder oben konnte sie immer weniger erkennen. Sie blickte durch einen Tunnel, durch ein Rohr welches immer schmaler wurde. Bald konnte sie nur noch einen kleinen Punkt aus hellem Licht sehen und das war die Welt die sie gerade verlassen hatte. Sie war so klein wie ein Stecknadelkopf.