Mittwoch, 31. Oktober 2012

Henry Jones


Henry Jones schnallte sich ab. Irgendwie hatte sich dieser Gurt doch verstellen lassen? Als das Flugzeug in Flughöhe war hatte er es sich sogar erklären lassen aber jetzt erinnerte er sich nicht mehr. Einige Reihen weiter auf der anderen Seite des Ganges saß ein Junge und schaute immer wieder zu ihm herüber. Er war vielleicht 12 Jahre alt. Vorhin hatte Henry ihm die Zunge raus gestreckt aber das schien ihn für den Kleinen nur noch interessanter gemacht zu haben. Henry beachtete ihn nicht mehr. Er hatte eigentlich wichtigeres zu tun aber er fand keine Konzentration, nicht in so einer Höhe, in einer kleinen Büchse über dem Meer. Seine Rede, die er morgen früh in Leipzig halten wollte, brauchte noch einige Notizen und Verweise, an einigen Stellen war er nicht ganz mit seinem Schreiber einverstanden gewesen und wollte sich etwas eigenes überlegen aber wie auch immer, er würde das ganze wohl verschieben müssen. Sobald er im Hotel seine Ruhe hatte würde er sich die ganze Sache mal ansehen. Im Moment schlugen ihm die ungewohnten Geräusche der Motoren auf den Magen und das ständige Auf-und-Ab ließ ihn jedes Mal tief Luft holen. Dabei flog Henry nicht zum ersten Mal, daran gewöhnen würde er sich wahrscheinlich dennoch nie mehr. Abgesehen davon saß er noch nie in einer so kleinen Maschine, hier spürte man umso mehr wo man sich gerade befand. Da war schon wieder dieses Geräusch! Nein, dieses Mal klang es anders...
Dunkle Wolken schlugen gegen das Glas – es war schwarzer Rauch! Henry starrte auf das Fenster, er konnte nicht raus sehen – alles dunkel. Er blickte sich um. Ein verschrecktes Raunen ging durch die enge Röhre. Eine Flugbegleiterin tauchte auf, sie taumelte, als sei sie betrunken. Erst dann merkte Henry dass das Flugzeug schief zur Seite abdriftete. Weiße Wolken zogen nun an seinem Fenster vorbei und Felder einen Kilometer weit weg. Die ersten Schrei und weitere gesellten sich dazu, eine Stimme panisch und die Flugbegleiterin flog in die Reihen zu den Füßen der Passagiere. Henry lag mit seinem Oberkörper auf der Wand und kam in dieser Position nicht umhin aus dem Fenster zu starren und den Erdboden rasend schnell auf sich zukommen zu sehen. Doch das Flugzeug stabilisierte sich langsam wieder. Die Flugbegleiterin stand wieder auf.
Bitte bewahren sie Ruhe und hören sie mir zu!“
Das Geschrei wurde nach diesen Worten schlagartig leiser aber nicht ganz. Das Flugzeug hatte sich wieder auf den Bauch gelegt – die Flugbegleiterin konnte aufrecht stehen.
Sie sehen über sich...“, begann sie und wurde unterbrochen.
Runter, runter!“
Der Pilot hatte durch die Sprechanlage geschrien – im selben Moment krachte es. Das Flugzeug schien von 600 km/h auf 0 km/h in nur wenigen Sekunden ab zu bremsen und die Sitzreihen glichen und fühlten sich an wie eine Achterbahn die sich abrupt in Bewegung setzte um gleich darauf gegen eine Wand zu fahren. Sitzreihe um Sitzreihe krachte auf ihren Vordermann und quetschte ihn mit Wucht gegen den nächsten Vordermann. Auf Höhe der Fenster zersprang die Röhre, riss auf wie mit einem unsichtbaren Messer aufgeschlitzt, wie durch verkrustete Butter. Die gestapelten Sitzreihen kippten teilweise aus dem Riss hinaus ins Freie. Die Flugzeugwände wellten sich und verbogen sich, als seinen sie aus etwas Gummiartigem mit viel Styropor dran welches in Splittern durch den Raum flog.
Henry hatte es aus seinen Sitz geworfen. Er hatte fast einen halben Salto hingelegt, dann knallte er gegen die Decke und spürte nur noch wie er in die Tiefe fiel, als er plötzlich kalte Luft auf seiner Haut vernahm. Er atmete Rauch ein und seine Augen schienen voller Sand zu sein. Durch Tränen sah er etwas Grünes vor sich. Die Sonne ging gerade auf, es war feucht. Er hörte schrille Sirenen die keine Pause machten und Feuer prasselte in seinen Ohren. Blinzelnd und über seine Augen wischend versuchte er mehr zu erkennen. Er setzte sich mit Leichtigkeit auf, er hatte sich nicht einmal etwas gebrochen und er hatte sich selten so stark gefühlt – wenn nicht dieser Sand in seinen Augen wäre.
Die Sirenen schrillten um ihn her und griffen seine Nerven an aber es waren gar keine Sirenen – da schrien viele Menschen auf einmal. Ein Auge hatte er schließlich gesäubert und sah... Maisstauden.