Der nächste Tag begann
mit Regenschauern. Kaum hatte es aufgehört zu regnen, brach der
nächste Guss aus den Wolken aus. Das Wasser floss in kleinen Strömen
am Straßenrand lang und stürzte in die Kanalisation. Egid saß am
Schreibtisch in seinem Zimmer und zeichnete einen Baum auf dem ein
Mädchen mit langen Haaren hockte und breit grinste. Die Mittagszeit
brach an aber das schlechte Wetter ließ nicht nach. Egid konnte
nichts anderes machen, als sich abzulenken und darauf zu warten, dass
der Regen aufhörte und er Nä Nä besuchen gehen konnte – er hatte
es ihr eigentlich versprochen. Wie es aussah würde er sein
Versprechen aber nicht halten können. Er hatte schon daran gedacht,
seine Regenjacke anzuziehen und zum Wald zu gehen, davon wollte sein
Vater aber nichts hören. Der Wetterbericht hatte erhöhtes
Fallout-Risiko gemeldet. Im Grunde kein Grund zur Sorge, die Werte
waren schon seit Jahrzehnten nicht mehr lebensgefährlich aber noch
immer traute kaum jemand dem Wetter. Egid fragte sich, ob Nä Nä vom
Fallout eine Ahnung hatte, andrerseits lebte sie schon sehr lange im
Wald und der Regen hatte sie nicht krank gemacht.
Er warf einen Blick aus
dem Fenster – es regnete. Seine Zeichnung sah nicht viel besser
aus, als das Gekrackel das er früher im Kindergarten fabriziert
hatte. Er zerknüllte das Papier und steckte es in seine Hosentasche,
als er seinen Papierkorb nicht fand. So langsam wurde es doch Zeit
auszupacken. Er öffnete einen der Kartons die überall in seinem
Zimmer herum standen und fing an sein Zeug in die Regale einzuräumen.
Egid war gerade dabei die
leeren Kartons übereinander zu stapeln, als sein Vater in Begleitung
eines jungen Mannes in der Zimmertür auftauchte.
„Egid, ich bin jetzt
weg, wir sehen uns zum Abendessen wieder – das hier ist mein
Berater Robert Jannick, er wird mich hier in Lalande unterstützen,
vielleicht kannst du ihm nach dem Abendessen das Haus zeigen?“
„Hallo“, sagte
Robert mit einem freundlichen Lächeln. Er war ein Mann mit sehr
brauner Hautfarbe und den hellsten Zähnen die Egid je gesehen hatte.
„Sicher“, sagte
Egid.
„Bleib heute bitte im
Haus, ich möchte nicht, dass du bei dem Regen nach draußen gehst.
Tentrietty geht heute früher heim, sie lässt dir etwas im
Kühlschrank stehen, das du dir warm machen kannst, wenn du Hunger
bekommst – sei brav, bis später.“
Die beiden Männer gingen
und Robert zwinkerte Egid beim gehen zu. Aus dem Fenster sah er den
großen Dienstwagen aus der Garage fahren und fort waren sie. Er war
nun alleine in dem großen Haus. Es mussten noch einige Kartons
entpackt werden aber er hatte im Moment keine Lust mehr darauf. Im
Kühlschrank in der Küche stand ein Topf mit Spagetti drin und eine
kleine Schüssel mit Tomatensoße. Egid machte sich aber nur ein
Toastbrot mit Käse und ließ sich im Wohnzimmer in den Sessel
fallen. Er nahm die Fernbedienung und machte den Fernseher an. Der
große Bildschirm flammte auf und zeigte das Menü mit den Sendern
und dem Programm. Nachdem Egid eine Weile darauf gestarrt hatte,
machte er das Gerät wieder aus.
Das Zwitschern der Vögel
weckte ihn eine Stunde später auf. Sonnenlicht flutete das
Wohnzimmer durch die wandhohen Fenster. Die Uhr zeigte kurz vor zwei
nachmittags. Er setzte sich auf. Der Regen hatte aufgehört.
Vielleicht wartete Nä Nä auf ihn. Er stand auf, sprang in seine
Schuhe im Eingangsflur und trat hinaus. Dann ging er mit schnellem
Schritt die Straße entlang auf den Wald zu – bis zum Ende der
Straße und in die Schatten der Bäume. Nä Nä konnte er nicht
entdecken aber das hatte er auch nicht erwartet. Wahrscheinlich
machte ihr der Regen nichts aus und sie hatte schon vor Stunden auf
ihn gewartet und war dann gegangen, als er nicht gekommen war.
„Nä Nä?“, rief er
trotzdem.
Keine Antwort. Er stieg
durch das Dickicht tiefer in den Wald.
„Nä Nä?!“
Ein Stück weiter vor ihm
lag die Stelle an der sie ihm der Eule vorgestellt hatte. Aber auch
die Eule war heute nicht da. Er ließ die Schultern hängen.
„Hm.“
Irgendwo musste sie doch
wohnen?
„Hallo!“
Die Stimme kam von oben
und ganz nah an seinem Ohr. Er schaute auf und kniete sich mit einem
ersticktem Schrei hin. Er hatte ihr direkt in ihre Augen und ihr
breites Lächeln geschaut. Sie hing direkt über ihm in der Luft.
„Was zum - !“
Nä Nä baumelte kopfüber
wie eine Spinne mit roter Haarmähne an einer Liane herab und lachte.
„Überraschung“,
rief sie fröhlich.
Egid stand wieder auf.
„Wie bist du denn da
hinauf gekommen?“, fragte er. Die Liane reichte bis ganz nach oben
und schlang sich dort irgendwo in zehn Metern Höhe um einen dicken
Ast.
„Ganz einfach hoch
geklettert“, sagte sie und ließ die Liane los, fiel und landete
auf ihren Füßen ohne das Egid mitbekam wie das passierte.
„Wohnst du da oben?“,
fragte Egid.
„Was ist wohnst?“,
fragte sie zurück.
Egid zeigte hoch in die
Baumkronen.
„Ob du da oben wohnst,
da in den Bäumen“, sagte er und zeigte nun auf einige Bäume, weil
ihm nichts besseres einfiel um deutlicher zu werden.
„Nein, ich wohnst da
gar nichts und wehe einer wohnst irgendwas da herum in meinen Bäumen,
dann kriegt er es mit mir zu tun. Du willst doch nicht etwa wohnsten,
oder?“
Egid sah sie einen
Augenblick fassungslos an. Er wusste nicht, ob er lachen oder es
lieber bleiben lassen sollte und entschied sich für ein halbes
Lächeln. Nä Nä hatte ihre Frage jedoch ernst gemeint.
„Ähm. Nein“, sagte
Egid kopfschüttelnd. „Wieso sollte ich, nein, bestimmt nicht.“
„Hm“, machte sie
noch nicht sehr überzeugt.
„Nä Nä, ich wollte
eigentlich nur wissen, wo du schläfst oder wo du deinen Ort hast an
dem du immer wieder zurückkehrst.“
„Oh“, machte sie.
Ihr Lächeln kam wieder – es war eigentlich nicht wirklich weg
gewesen. Und dann lachte sie. Sie schüttelte ihr Haar herum. Wasn,
die Eidechse flog heraus und landete auf ihrer Schulter.
„Tut mir Leid, Egid.
Es gibt einfach viel zu viele Wörter und ich kann mir einfach nicht
alle merken. Ich wohnst... hm... ich wohne in einem sehr hohen Baum
und einen sehr alten noch dazu. Willst du mein Nest sehen?“
Egid nickte unsicher und
noch bevor er etwas weiteres tun oder sagen konnte, hatte sie ihn am
Handgelenk umklammert und zog ihn hinter sich her. Sie konnte sich
durch das Dickicht so leichtfüßig bewegen wie eine Schlange und
ihre Schritte waren so flink, dass Egids Augen kaum ihren Bewegungen
folgen konnten. Er selbst hingegen stolperte und strauchelte und
stampfte wie ein betrunkener Strauß hinter ihr her. Und der Weg
wurde umso beschwerlicher, umso tiefer sie ihn in den Wald hinein
führte.
„Halt“, sagte sie
plötzlich.
Sie hielt so abrupt an,
dass Egid in sie hinein rannte.
„Was ist?“, sagte
er.
Sie zeigte auf eine
Stelle zwischen den Baumstämmen. Dort regte sich etwas sehr großes.
Die Büsche zitterten und es raschelte laut aber Egid konnte nichts
weiter erkennen.
„Das ist Daluthia“,
flüsterte Nä Nä. „Wir müssen leise sein.“
Egid blickte nun
angestrengt in die Richtung aus dem das Rascheln kam. Da bewegte sich
etwas sehr großes und dunkles und – Egids Herz machte einen Sprung
– es machte grunzende Geräusche und scharrte mit seinen Beinen
über die Erde.
„Nä Nä, was ist
das?“, flüsterte Egid.
Sie lächelte.
„Keine Angst, das ist
Daluthia, sie ist meine Freundin.“
Sie ging weiter und zog
Egid hinter sich her. Doch sie bewegte sich nun langsamer und
umsichtiger, um keine Geräusche zu machen – sie schlich.
„Deine Freundin?“,
flüsterte Egid mit zittriger Stimme. „Warum versteckst du dich vor
deiner Freundin, Nä Nä?“
„Psst“, machte Nä
Nä und schlich weiter.
Sie führte ihn um einen
sehr dicken Baumstamm herum und dann unter einer gewaltigen Wurzel
drunter durch. Der Boden wurde von da an lichter, die Büsche und das
Gestrüpp wich nun schwarzer, feuchter Erde die von einem Teppich aus
braunen Blättern bedeckt war. Das Grunzen und Scharren war nicht
mehr zu hören.
„Daluthia kriegt bald
ein Kind und braucht jetzt Ruhe und darum muss man leise sein, wenn
man sie besucht“, erklärte Nä Nä.
„Was für ein Tier ist
Daluthia?“
Nä Nä musste überlegen.
Anscheinend kannte sie die Tiernamen nicht so gut.
„Ich glaube, ihr nennt
sie Wildschwein.“
Egid schüttelte den
Kopf.
„Wildschweine sind
nicht so groß, Nä Nä.“
„Daluthia schon.“
Sie packte ihn wieder am
Handgelenk und beide liefen über den Blätterteppich weiter in
Richtung eines Hügels auf dem, abgesehen von einer gewaltigen Eiche,
nur sehr junge Bäume wuchsen.
„Da schlafe ich“,
sagte Nä Nä. Sie zeigte auf den riesigen Baum. „Da wohne ich. Es
ist der größte Baum im ganzen Wald und man kann ganz einfach rauf
klettern.“
„Wahnsinn“, sagte
Egid, nicht nur, weil er glaubte, dass sie es erwartete sondern auch
weil es tatsächlich ein sehr beeindruckender Baum war. Der Stamm
ragte über all die anderen Bäume hinaus, weit in den blauen Himmel
und aus ihm wuchsen hunderte stammdicke Äste aus denen wiederum
weitere Äste sprießen. Die Krone bestand aus mehreren gewaltigen
Kronen, die so etwas wie Stockwerke bildeten und die Spitze war nicht
zu erkennen.
„Nä Nä, so etwas
habe ich noch nie gesehen“, sagte Egid.
Nä Nä freute sich und
rannte vor.
„Komm, Egid! Ich stell
dich vor!“
Als er dem Stamm, der den
Durchmesser eines Ein-Familienhauses hatte, näher kam, begriff er,
was Nä Nä gemeint hatte, als sie sagte, es sei einfach rauf zu
klettern. Einige der dicken Äste neigten sich bis zum Boden herab
und man konnte an ihnen wie über eine stufenlose Treppe hoch gehen
und danach konnte man über die dünneren Äste wie über Leitern
noch höher herauf.
Nä Nä blieb vor einem
der dicken Äste am Boden stehen und fing an eine Melodie zu summen.
Sie klang sehr schön fand Egid. Und während sie summte blickte sie
hoch ins Geäst. Egid kam bei ihr an und blickte auch auf.
„Wem möchtest du mich
vorstellen?“
Sie hörte auf zu summen.
„Meinem Baum“, sagte
sie und tätschelte den dicken Ast.
Egid kratzte sich am
Hinterkopf.
„Du sprichst mit dem
Baum?“
Nä Nä nickte.
„Klar! Damit es ihm
nicht langweilig ist.“
Egid lachte.
„Glaubst du, er
versteht dich?“
Nä Nä zuckte mit den
Schultern.
„Weiß ich nicht aber
wenn du 1000 Jahre lang an immer dem gleichen Ort stehen würdest,
wäre dir bestimmt langweilig. Dann würdest du dich ganz sicher
freuen, wenn einer mit dir redet auch wenn du ihn nicht verstehst und
außerdem singe ich ihm meistens etwas vor und das braucht man ja
nicht zu verstehen weil es muss sich nur schön anhören.“
Egid sah ihr zu, wie sie
auf den Ast stieg und darauf balancierend im Laub verschwand. Er
dachte über das was sie gesagt hatte nach. Und da fiel ihm ein, dass
er irgendwo gelesen hatte, dass Pflanzen besser wuchsen, wenn man mit
ihnen sprach. Wie interessant dieses Thema gewesen ist, merkte er
erst jetzt, vielleicht Jahre nachdem er darüber gelesen hatte.
Trotzdem kam er sich etwas dumm vor als er „Hallo, Baum“, sagte
und es Nä Nä gleich tat und den dicken Ast tätschelte.
„Nä Nä?“, rief er.
Gerade fiel ihm etwas ein, worüber er sich für gewöhnlich lieber
keine Gedanken machte. „Wie hoch oben ist dein Nest?“