Sonntag, 31. März 2013

Nä-nä (2)


Da war was! In den Büschen, nicht sehr tief im Wald. Egid kniete sich hin. Es raschelte und dann hörte Egid wieder die Stimme: „Hmmmn-ja.“ Und ein Kichern. Etwas großes mit rostrotem Fell hockte dort im Busch und schmatzte gierig. Vorsichtig schlich Egid auf allen Vieren näher heran doch er war nicht leise genug.
„Hm?!“ Das Wesen erstarrte. Es drehte seinen Kopf in Egids Richtung und Egid blickte jetzt wahrscheinlich direkt in seine Augen, auch wenn er es nicht sehen konnte. Gerade als Egid begriff, dass es sich bei dem Wesen um einen Menschen handelte, sprang es aus dem Busch auf ihn zu. Egid sprang auch auf, um rücklings zurück zu stolpern. Vor ihm landete ein Mädchen mit unglaublich vielen Haaren auf dem Kopf und mit genauso rostroten Augen wie diese. Das Haar reichte bis zum Boden, flocht sich um ihre Arme, um die Brust herum und ihre Beine. Darunter trug sie so etwas wie einen Kartoffelsack aber Egid konnte aufgrund der Haarmenge nicht erkennen was es war.
Er stand wie angewurzelt da und starrte sie an. Sie zeigte ihm die Zähne und knurrte: „Grrr!“ Sie stand da, wie zu einem weiteren Sprung bereit. Egid machte einen vorsichtigen Schritt zurück. Da stellte sie sich gerade hin und fing an zu lächeln. Ein wildes Mädchen aus dem Wald? Egid entspannte sich – sie war um einen halben Kopf kleiner als er.
„Hallo“, sagte er und aus irgendeinem Grund zeigte er mit dem Zeigefinger auf sich selbst. „Ich – Egid!“ Sie guckte jetzt etwas verblüfft.
„Egid“, sagte sie, Egids Stimme nachahmend.
Egid nickte. Noch einmal zeigte er auf sich selbst und wiederholte seinen Namen.
„Egid – und du?“ Er zeigte auf sie.
Sie lächelte nicht mehr, sie fand Egid anscheinend lustig, denn jetzt lachte sie laut und hielt sich den Bauch. Ihre Stimme hallte im Wald wider. Dann zeigte sie auf sich.
„Ich – Zitrokokinunoki“, sagte sie und fügte hinzu, „aber meine Freunde nennen mich Nä-nä.“
Jetzt schaute Egid verblüfft.
„Du kannst ja sprechen“, sagte er etwas zu überrascht. „Ich meine, tut mir Leid.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.
Das Mädchen lächelte wieder, streckte ihm ihre Hand entgegen. In ihr lagen drei große Waldbeeren. Diese hatte sie wohl verspeist, als Egid sie gestört hatte. Ihre Lippen und auch ein größerer Teil ihres Gesichts zeugten davon wie sehr es ihr geschmeckt hatte.
Egid nahm eine Beere. Er warf sie sich in den Mund und würgte sie runter. Er hätte sie lieber auf den Boden geworfen aber sie beobachtete ihn höchst interessiert. Immerhin schmeckte sie nach gar nichts – fühlte sich an wie Wasser in einer Blase.
„Lebst du im Wald?“, fragte Egid.
„Ja, auf einem Baum und du?“
Egid drehte den Kopf zurück zur Straße.
„In einem der Häuser auf der Straße“, sagte er. „Wie lange lebst du denn schon im Wald?“
„Weiß ich nicht mehr. Ich glaube, schon immer.“
„Hast du denn keine Eltern oder so?“
„Nein, aber ich habe viele Freunde“, sagte sie und griff dabei in ihr Haar unter ihrem linken Ohr – jedenfalls vermutete Egid dort ihr Ohr. Sie hatte plötzlich eine kleine, schwarze Eidechse auf ihrer Hand. Zunächst erschrocken wich Egid halb zurück, kam dann aber wieder näher. Das Tier lag faul auf ihrer Hand und starrte ihn mit seinen Glubschaugen an – züngelte einmal und schaute weg.
„Das ist Wasn, er kommt immer dahin mit wo ich hin gehe“, erzählte das Mädchen Nä-nä, „aber meistens sehe ich ihn nicht, weil er sich in meinen Haaren versteckt.“
Egid lachte.
„Was für andere Freunde hast du noch?“
„Ganz viele, sie leben im Wald aber ich habe auch Freunde die in der Stadt leben. Ich kann sie dir zeigen. Komm mit!“
Sie packte ihn am Handgelenk und zog ihn hinter sich her tiefer in den Wald hinein. Und da machte sich ein Geräusch breit, das Egid noch nie in seinem Leben gehört hatte. Es fühlte sich an, als seien seine Ohren nur noch dazu da dieses Geräusch zu hören und seien für alles andere taub.
„Was ist das?“, fragte er, gleichzeitig versuchte er sich los zu machen. „Warte, ich glaube nicht, dass wir so tief hinein gehen sollten.“
Nä-nä blieb stehen.
„Aber meine Freunde leben mehr tiefer im Wald“, sagte sie, ihre Stimme enthielt einen Hauch Enttäuschung. Doch sie klang auf einmal so klar und Egid fühlte sich immer noch taub.
„Was ist das für ein Geräusch?“, fragte er.
Sie horchte.
„Ich höre nichts.“ Sie versuchte ihn wieder behutsam mit sich zu ziehen. „Komm, es ist nicht so weit.“
Egid atmete einmal tief durch.
„Na schön, aber langsamer.“
Sie nickte. Beide gingen weiter, wobei Egid seine Schwierigkeiten damit hatte stehen zu bleiben und nicht hin zu fallen. Auf dem Boden wucherten Sträucher bis zu den Knien hoch und darunter bildeten wirr verschlungene Wurzeln natürliche Stolperfallen. Und schließlich fiel er auch hin, gerade als Nä-nä rief: „Oh, da ist die Eule! Warum hast du dich auf den Boden gelegt?“
Sie zeigte in die Äste eines hohen Baumes hoch und schaute gleichzeitig verdutzt zu Egid hinab. Egid stand auf.
„Ich hab mich nicht hingelegt“, seufzte er, sich die Hosen abklopfend.
Im Baum saß tatsächlich eine große dunkelbraune Eule und döste vor sich hin.
„Eule!!“, schrie Nä-nä so laut das die Eule und auch Egid zusammen zuckten. Die Eule gab ein lautes Kreischen von sich, drehte ihnen den Rücken zu und schlief weiter.
„Hm“, machte Nä-nä, „sie arbeitet in der Nacht, weißt du? Am Tag schläft sie.“
„Ich glaube, das machen alle Eulen“, sagte Egid.
Sie blickte ihn überrascht an und fing an zu strahlen.
„Ich finde toll, dass du das weißt, Egid. Meine Freunde aus der Stadt wissen so etwas nicht.“
„Was für Freunde hast du in der Stadt? Sind es -ähm- Menschen?“
Sie nickte.
„Der Eismann schenkt mir manchmal ein Eis und da ist auch die alte Lady die Vögel füttert wenn es kalt wird und der Förster der mich gerne schnappt.“ Sie lachte. „Aber er hat mich noch nie geschnappt.“
„Warum jagt er dich?“
Nä-nä zuckte mit den Schultern.
„Aber es ist immer lustig. Komm weiter!“
Sie nahm ihn an die Hand aber Egid fasste sie an der Schulter, um sie auf zu halten. Ihre Haare fühlten sich wie Stroh an.
„Nä-nä, ich muss zurück nach Hause, mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin, er wird sich schon Sorgen machen.“
Jetzt war die Enttäuschung in ihrem Gesicht ganz deutlich zu sehen aber nur kurz, dann lächelte sie plötzlich.
„Dann zeige ich dir die anderen Freunde morgen!“
Egid nickte.
„Ja, ich komme morgen wieder.“
Sie lachte, winkte ihm zum Abschied und rannte durch das Dickicht in den Wald hinein. Egid sah ihr nach, bis sie irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden war. Auf dem Rückweg hatte er jede Menge zum Nachdenken. Konnte es wirklich so sein, wie es gewesen ist? Es würde ihn nicht wundern, wenn er morgen aufwachen und glauben würde, dass er bloß geträumt hatte.
Er kam auf die Straße und in seinen Ohren begann es laut zu rauschen. Er gewöhnte sich schnell daran denn dieses Rauschen war seinen Ohren wohl bekannt aber jetzt wusste er, was er gehört hatte, als er den Wald betreten hatte. Stille!

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