Freitag, 12. April 2013

Nä Nä (3)


Der nächste Tag begann mit Regenschauern. Kaum hatte es aufgehört zu regnen, brach der nächste Guss aus den Wolken aus. Das Wasser floss in kleinen Strömen am Straßenrand lang und stürzte in die Kanalisation. Egid saß am Schreibtisch in seinem Zimmer und zeichnete einen Baum auf dem ein Mädchen mit langen Haaren hockte und breit grinste. Die Mittagszeit brach an aber das schlechte Wetter ließ nicht nach. Egid konnte nichts anderes machen, als sich abzulenken und darauf zu warten, dass der Regen aufhörte und er Nä Nä besuchen gehen konnte – er hatte es ihr eigentlich versprochen. Wie es aussah würde er sein Versprechen aber nicht halten können. Er hatte schon daran gedacht, seine Regenjacke anzuziehen und zum Wald zu gehen, davon wollte sein Vater aber nichts hören. Der Wetterbericht hatte erhöhtes Fallout-Risiko gemeldet. Im Grunde kein Grund zur Sorge, die Werte waren schon seit Jahrzehnten nicht mehr lebensgefährlich aber noch immer traute kaum jemand dem Wetter. Egid fragte sich, ob Nä Nä vom Fallout eine Ahnung hatte, andrerseits lebte sie schon sehr lange im Wald und der Regen hatte sie nicht krank gemacht.
Er warf einen Blick aus dem Fenster – es regnete. Seine Zeichnung sah nicht viel besser aus, als das Gekrackel das er früher im Kindergarten fabriziert hatte. Er zerknüllte das Papier und steckte es in seine Hosentasche, als er seinen Papierkorb nicht fand. So langsam wurde es doch Zeit auszupacken. Er öffnete einen der Kartons die überall in seinem Zimmer herum standen und fing an sein Zeug in die Regale einzuräumen.
Egid war gerade dabei die leeren Kartons übereinander zu stapeln, als sein Vater in Begleitung eines jungen Mannes in der Zimmertür auftauchte.
„Egid, ich bin jetzt weg, wir sehen uns zum Abendessen wieder – das hier ist mein Berater Robert Jannick, er wird mich hier in Lalande unterstützen, vielleicht kannst du ihm nach dem Abendessen das Haus zeigen?“
„Hallo“, sagte Robert mit einem freundlichen Lächeln. Er war ein Mann mit sehr brauner Hautfarbe und den hellsten Zähnen die Egid je gesehen hatte.
„Sicher“, sagte Egid.
„Bleib heute bitte im Haus, ich möchte nicht, dass du bei dem Regen nach draußen gehst. Tentrietty geht heute früher heim, sie lässt dir etwas im Kühlschrank stehen, das du dir warm machen kannst, wenn du Hunger bekommst – sei brav, bis später.“
Die beiden Männer gingen und Robert zwinkerte Egid beim gehen zu. Aus dem Fenster sah er den großen Dienstwagen aus der Garage fahren und fort waren sie. Er war nun alleine in dem großen Haus. Es mussten noch einige Kartons entpackt werden aber er hatte im Moment keine Lust mehr darauf. Im Kühlschrank in der Küche stand ein Topf mit Spagetti drin und eine kleine Schüssel mit Tomatensoße. Egid machte sich aber nur ein Toastbrot mit Käse und ließ sich im Wohnzimmer in den Sessel fallen. Er nahm die Fernbedienung und machte den Fernseher an. Der große Bildschirm flammte auf und zeigte das Menü mit den Sendern und dem Programm. Nachdem Egid eine Weile darauf gestarrt hatte, machte er das Gerät wieder aus.
Das Zwitschern der Vögel weckte ihn eine Stunde später auf. Sonnenlicht flutete das Wohnzimmer durch die wandhohen Fenster. Die Uhr zeigte kurz vor zwei nachmittags. Er setzte sich auf. Der Regen hatte aufgehört. Vielleicht wartete Nä Nä auf ihn. Er stand auf, sprang in seine Schuhe im Eingangsflur und trat hinaus. Dann ging er mit schnellem Schritt die Straße entlang auf den Wald zu – bis zum Ende der Straße und in die Schatten der Bäume. Nä Nä konnte er nicht entdecken aber das hatte er auch nicht erwartet. Wahrscheinlich machte ihr der Regen nichts aus und sie hatte schon vor Stunden auf ihn gewartet und war dann gegangen, als er nicht gekommen war.
„Nä Nä?“, rief er trotzdem.
Keine Antwort. Er stieg durch das Dickicht tiefer in den Wald.
„Nä Nä?!“
Ein Stück weiter vor ihm lag die Stelle an der sie ihm der Eule vorgestellt hatte. Aber auch die Eule war heute nicht da. Er ließ die Schultern hängen.
„Hm.“
Irgendwo musste sie doch wohnen?
„Hallo!“
Die Stimme kam von oben und ganz nah an seinem Ohr. Er schaute auf und kniete sich mit einem ersticktem Schrei hin. Er hatte ihr direkt in ihre Augen und ihr breites Lächeln geschaut. Sie hing direkt über ihm in der Luft.
„Was zum - !“
Nä Nä baumelte kopfüber wie eine Spinne mit roter Haarmähne an einer Liane herab und lachte.
„Überraschung“, rief sie fröhlich.
Egid stand wieder auf.
„Wie bist du denn da hinauf gekommen?“, fragte er. Die Liane reichte bis ganz nach oben und schlang sich dort irgendwo in zehn Metern Höhe um einen dicken Ast.
„Ganz einfach hoch geklettert“, sagte sie und ließ die Liane los, fiel und landete auf ihren Füßen ohne das Egid mitbekam wie das passierte.
„Wohnst du da oben?“, fragte Egid.
„Was ist wohnst?“, fragte sie zurück.
Egid zeigte hoch in die Baumkronen.
„Ob du da oben wohnst, da in den Bäumen“, sagte er und zeigte nun auf einige Bäume, weil ihm nichts besseres einfiel um deutlicher zu werden.
„Nein, ich wohnst da gar nichts und wehe einer wohnst irgendwas da herum in meinen Bäumen, dann kriegt er es mit mir zu tun. Du willst doch nicht etwa wohnsten, oder?“
Egid sah sie einen Augenblick fassungslos an. Er wusste nicht, ob er lachen oder es lieber bleiben lassen sollte und entschied sich für ein halbes Lächeln. Nä Nä hatte ihre Frage jedoch ernst gemeint.
„Ähm. Nein“, sagte Egid kopfschüttelnd. „Wieso sollte ich, nein, bestimmt nicht.“
„Hm“, machte sie noch nicht sehr überzeugt.
„Nä Nä, ich wollte eigentlich nur wissen, wo du schläfst oder wo du deinen Ort hast an dem du immer wieder zurückkehrst.“
„Oh“, machte sie. Ihr Lächeln kam wieder – es war eigentlich nicht wirklich weg gewesen. Und dann lachte sie. Sie schüttelte ihr Haar herum. Wasn, die Eidechse flog heraus und landete auf ihrer Schulter.
„Tut mir Leid, Egid. Es gibt einfach viel zu viele Wörter und ich kann mir einfach nicht alle merken. Ich wohnst... hm... ich wohne in einem sehr hohen Baum und einen sehr alten noch dazu. Willst du mein Nest sehen?“
Egid nickte unsicher und noch bevor er etwas weiteres tun oder sagen konnte, hatte sie ihn am Handgelenk umklammert und zog ihn hinter sich her. Sie konnte sich durch das Dickicht so leichtfüßig bewegen wie eine Schlange und ihre Schritte waren so flink, dass Egids Augen kaum ihren Bewegungen folgen konnten. Er selbst hingegen stolperte und strauchelte und stampfte wie ein betrunkener Strauß hinter ihr her. Und der Weg wurde umso beschwerlicher, umso tiefer sie ihn in den Wald hinein führte.
„Halt“, sagte sie plötzlich.
Sie hielt so abrupt an, dass Egid in sie hinein rannte.
„Was ist?“, sagte er.
Sie zeigte auf eine Stelle zwischen den Baumstämmen. Dort regte sich etwas sehr großes. Die Büsche zitterten und es raschelte laut aber Egid konnte nichts weiter erkennen.
„Das ist Daluthia“, flüsterte Nä Nä. „Wir müssen leise sein.“
Egid blickte nun angestrengt in die Richtung aus dem das Rascheln kam. Da bewegte sich etwas sehr großes und dunkles und – Egids Herz machte einen Sprung – es machte grunzende Geräusche und scharrte mit seinen Beinen über die Erde.
„Nä Nä, was ist das?“, flüsterte Egid.
Sie lächelte.
„Keine Angst, das ist Daluthia, sie ist meine Freundin.“
Sie ging weiter und zog Egid hinter sich her. Doch sie bewegte sich nun langsamer und umsichtiger, um keine Geräusche zu machen – sie schlich.
„Deine Freundin?“, flüsterte Egid mit zittriger Stimme. „Warum versteckst du dich vor deiner Freundin, Nä Nä?“
„Psst“, machte Nä Nä und schlich weiter.
Sie führte ihn um einen sehr dicken Baumstamm herum und dann unter einer gewaltigen Wurzel drunter durch. Der Boden wurde von da an lichter, die Büsche und das Gestrüpp wich nun schwarzer, feuchter Erde die von einem Teppich aus braunen Blättern bedeckt war. Das Grunzen und Scharren war nicht mehr zu hören.
„Daluthia kriegt bald ein Kind und braucht jetzt Ruhe und darum muss man leise sein, wenn man sie besucht“, erklärte Nä Nä.
„Was für ein Tier ist Daluthia?“
Nä Nä musste überlegen. Anscheinend kannte sie die Tiernamen nicht so gut.
„Ich glaube, ihr nennt sie Wildschwein.“
Egid schüttelte den Kopf.
„Wildschweine sind nicht so groß, Nä Nä.“
„Daluthia schon.“
Sie packte ihn wieder am Handgelenk und beide liefen über den Blätterteppich weiter in Richtung eines Hügels auf dem, abgesehen von einer gewaltigen Eiche, nur sehr junge Bäume wuchsen.
„Da schlafe ich“, sagte Nä Nä. Sie zeigte auf den riesigen Baum. „Da wohne ich. Es ist der größte Baum im ganzen Wald und man kann ganz einfach rauf klettern.“
„Wahnsinn“, sagte Egid, nicht nur, weil er glaubte, dass sie es erwartete sondern auch weil es tatsächlich ein sehr beeindruckender Baum war. Der Stamm ragte über all die anderen Bäume hinaus, weit in den blauen Himmel und aus ihm wuchsen hunderte stammdicke Äste aus denen wiederum weitere Äste sprießen. Die Krone bestand aus mehreren gewaltigen Kronen, die so etwas wie Stockwerke bildeten und die Spitze war nicht zu erkennen.
„Nä Nä, so etwas habe ich noch nie gesehen“, sagte Egid.
Nä Nä freute sich und rannte vor.
„Komm, Egid! Ich stell dich vor!“
Als er dem Stamm, der den Durchmesser eines Ein-Familienhauses hatte, näher kam, begriff er, was Nä Nä gemeint hatte, als sie sagte, es sei einfach rauf zu klettern. Einige der dicken Äste neigten sich bis zum Boden herab und man konnte an ihnen wie über eine stufenlose Treppe hoch gehen und danach konnte man über die dünneren Äste wie über Leitern noch höher herauf.
Nä Nä blieb vor einem der dicken Äste am Boden stehen und fing an eine Melodie zu summen. Sie klang sehr schön fand Egid. Und während sie summte blickte sie hoch ins Geäst. Egid kam bei ihr an und blickte auch auf.
„Wem möchtest du mich vorstellen?“
Sie hörte auf zu summen.
„Meinem Baum“, sagte sie und tätschelte den dicken Ast.
Egid kratzte sich am Hinterkopf.
„Du sprichst mit dem Baum?“
Nä Nä nickte.
„Klar! Damit es ihm nicht langweilig ist.“
Egid lachte.
„Glaubst du, er versteht dich?“
Nä Nä zuckte mit den Schultern.
„Weiß ich nicht aber wenn du 1000 Jahre lang an immer dem gleichen Ort stehen würdest, wäre dir bestimmt langweilig. Dann würdest du dich ganz sicher freuen, wenn einer mit dir redet auch wenn du ihn nicht verstehst und außerdem singe ich ihm meistens etwas vor und das braucht man ja nicht zu verstehen weil es muss sich nur schön anhören.“
Egid sah ihr zu, wie sie auf den Ast stieg und darauf balancierend im Laub verschwand. Er dachte über das was sie gesagt hatte nach. Und da fiel ihm ein, dass er irgendwo gelesen hatte, dass Pflanzen besser wuchsen, wenn man mit ihnen sprach. Wie interessant dieses Thema gewesen ist, merkte er erst jetzt, vielleicht Jahre nachdem er darüber gelesen hatte. Trotzdem kam er sich etwas dumm vor als er „Hallo, Baum“, sagte und es Nä Nä gleich tat und den dicken Ast tätschelte.
„Nä Nä?“, rief er. Gerade fiel ihm etwas ein, worüber er sich für gewöhnlich lieber keine Gedanken machte. „Wie hoch oben ist dein Nest?“

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

voll süüß! (ich bins, Robin!)