Donnerstag, 11. September 2014

Dusonstadt, Frühjahr: 1023, Sektor 345 - Drindrin

Sie sahen aus wie eine Horde Wikinger. Ein Kerl an vorderster Stelle hatte sich sein Hemd ausgezogen. Er musste mehr als 2 Meter groß sein und war bepackt mit Muskeln die bei jeder Bewegung andere Formen annahmen. Wie eine Maschine stampfte er über die Straße vorwärts und würde selbst Autos aus den Weg walzen.
Drindrin blieb stehen und nahm die Meute auf, die schnell an ihr vorbei zog. Sie schrien irgendetwas aber sie verstand gar nichts. Laute Rock-Musik überschalte alles. Agil-Droiden des DSPD liefen neben ihnen her und bewachten die Demonstration. Und von beiden Seiten auf den Gehwegen hielten Menschen an, um zu filmen oder um zu gaffen.
Drindrin beendete die Aufnahme. Ihr kleiner Tieger sprang aus dem Schaufenster eines Ladens. Sie sah darin Spielekonsolen und Zubehör. Im Inneren tummelten sich einige Freaks, einige von ihnen schauten durch die Scheibe nach draußen. Drindrins kleiner Tieger jaulte.
„Ich will das nicht“, sagte Drindrin.
Der kleine Tieger lief weiter und verschwand. Drindrin sah der demonstrierenden Meute nach.
„Wir sind wahre Menschen“, hörte sie jemanden rufen.
Etwas weiter landete ihre Schwebebahn in einer Haltestelle. Sie rannte los.

Drindrin hörte Musik. Sie brauchte keine Kopfhörer. Sie wurde taubstumm geboren und bekam noch im Bauch ihrer Mutter interne Hörgeräte eingepflanzt – gebaut von ganz kleinen Robotern, nicht größer als ein Molekül. Das sie taubstumm sein würde, wussten die Ärzte schon, als sie gar nicht geplant gewesen ist.
Die Schwebebahn sauste zwischen den Türmen des Sektors an gewaltigen Werbetafeln vorbei. Hier und da grüßte sie ihr kleiner Tieger aus einer dieser Tafeln und wenn die Bahn durch einen Tunnel sauste, sah sie auf dem Fensterglas die Bücher die sie gerade las. Wenn sie sich vom Fenster abwandte löste sich das Buch das sie mit ihren Augen fixiert hatte aus dem Fenster und schwebte als holographische Darstellung direkt vor ihr.
Ihre Oma war 132 Jahre alt und sie konnte sich nicht vorstellen, wie ein Mensch soviele Dinge auf einmal aufnehmen kann. Überall Bilder, fliegende Aufnahmen von anderen Orten, Videospiele die sich im Bistro auf dem Tisch ausbreiteten, Werbungen die mit einem sprachen, Hologramme, Lichter, geisterhafte Pfeile auf den Straßen, die einem den Weg wiesen und vieles mehr. Sie sagte, sie würde verrückt werden, wenn sie so wäre wie Drindrin.
Tatsache aber war, dass Oma gar nicht wusste, wie Drindrin wirklich war, weil Oma das Haus schon seit 12 Jahren nicht mehr verlassen hatte und sie erlebte ihre Enkelin nur in ihrer Wohnung, wenn sie zu Besuch kam. Und dann saß Drindrin meistens nur herum, spielte mit Oma alte Videospiele oder machte ihre Hausaufgaben.

Drindrin musste aussteigen. Die Schwebebahn landete in einer Haltestelle in der Nähe der Türme in denen Drindrin mit ihren Müttern wohnte. Ihr Vater lebte nicht mehr. Er kam bei einem Arbeitsunfall im Orbit um – er war Raumschrott-Sammler gewesen. Danach lernte ihre Mutter eine Frau kennen und lebte fortan mit ihr zusammen.
„Hallo Drindrin“, grüßte der Agil-Droide, der das Viertel sauber machte.
„Hallo“, sagte Drindrin.
Beide standen vor dem Eingang der Haltestelle. Sie hatten einen tollen Ausblick auf die Nordsee. Sie waren 800 Meter über dem Meeresspiegel auf einer hängenden Straße. Drindrin stellte sich gerne an den Rand und schaute herunter in die Tiefe. Erst dann merkte man, dass sich die Straße im Wind hin und her schaukelte. Langsam hin und her, wie im Traum. Und wenn sie zu lange runter schaute wurde ihr schwindelig und sie taumelte, dann musste sie sich am Geländer festhalten.
„Soll ich dir bei deinen Hausaufgaben helfen?“, fragte der Agil-Droide.
„Gerne“, sagte sie.
Sie ging voraus und der Droide folgte ihr. Sie hatte ihn kennen gelernt, als ihre Mutter sie einmal ausgeschimpft hatte, weil sie kein gutes Zeugnis mit gebracht hatte. Der Droide ging dazwischen, als ihre Mutter sie schlagen wollte. Eigentlich waren alle Droiden darauf programmiert dazwischen zu gehen, wenn Menschen ihre Beherrschung verloren aber es war nun mal dieser eine Droide gewesen der zu dieser Zeit an diesem Ort gewesen war und danach grüßte sie ihn jedes Mal. Droiden waren zwar auch darauf programmiert Freundschaften mit Menschen zu schließen aber manchmal glaubte Drindrin, dass der Droide sie wirklich gerne hatte.
„Mathematik? Physik? Informatik?“
Drindrin seufzte.
„Ich befürchte alles.“
Der Droide nickte.
„Das machen wir in einer Stunde fertig und danach kannst du etwas anderes machen.“
Sie setzten sich in ein Cafe das ebenfalls in der Luft hing. Der Boden bestand aus Glasplatten, man konnte nach unten schauen und kam sich beim Essen seiner Pommes vor, als würde man frei in der Luft schweben. Nicht jedermans Sache.
„Cola?“, fragte der Droide. Drindrin nickte. „Ich bezahle.“
„Danke“, sagte Drindrin.
Nebenan am Tisch saß eine Frau mit Glatze. Sie hatte überall Piercings. Ihre kleine Tochter malte auf E-Papier und fragte immer wieder, ob ihre Mutter ihr dieses oder jenes auf ihr Bild malen könnte. Vor ihnen saß ein Mann mit gräulicher Haut der in einem holographischen Comic blätterte und laut seinen Milchkaffee mit Sahne schlürfte. Und dahinter schraubte ein Agil-Droide der Müllentsorgung an seiner Hand herum, die anscheinend nicht mehr das tun wollte, was er wollte.
„Kennst du die Formel, um diese Aufgaben hier zu lösen?“, fragte ihr Freund.
„Ja.“
Sie nahm ihre Schultafel und schrieb ihm die Formel mit dem Finger auf. Er betrachtete sie eine Weile und es sah aus, als dachte er nach, auch wenn sein metallischer Schädel natürlich zu keiner Regung im Stande war.
„Gut, ich verstehe diese Aufgaben.“ Er reichte ihr die Tafel. „Fang mit der ersten Aufgabe an und ich schaue dir zu, dann finde ich bestimmt heraus, wo du Schwierigkeiten hast.“

Drindrin grinste und fing an.  

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