Alicen
stand auf einem der Stabilisierungskabel des Weltraumlifts. Wenn man
nicht gerade Höhenangst hatte, konnte man ohne viel Anstrengung bis
zur Spitze des Raumhafens spazieren. Das Kabel war so breit wie eine
kleine Straße, so brauchte er sich zunächst keine Gedanken darum zu
machen nicht runter zu fallen. Erst später musste er über die
Verankerungen der Stabilisierungsseile klettern, die das
Stabilisierungskabel stabilisierten. Dokrit hatte ihm alles erklärt,
jede Etappe einzeln in jeder Einzelheit.
Axii
stand unten auf dem Dach der Bodenverankerung und filmte ihn. Er
musste jetzt fast einen halben Kilometer entfernt sein und zwei
Dutzend Meter unter ihm.
Alicen
hatte von hier oben einen großartigen Überblick über den
Raumhafen. Eine Millionenstadt war um das Baugebiet entstanden. Es
sah aus, als würde die Dusonstadt um das riesige Gelände herum
wachsen. Ein beinahe perfekter Kreis im ehemaligen Waldgebiet.
Axii
setzte sich hin. Der Himmel war mit schweren Wolken behangen. Am
Horizont leuchtete ein Streifen Sonnenlichts und färbte die
Wolkendecke orange. Axii hörte Musik.
„I'm not looking for the answers, I'm not looking for the truth,
I'm not looking for the death, I'm not looking for the god....“
Er
zoomte Alicen heran. Er wischte sich die Stirn und sagte etwas. Axii
verstand es nicht aber auf dem Video würde man es herausfiltern
können. Irgendwo hörte er eine Sirene aufheulen. Vielleicht hatte
man sie entdeckt? Er blieb sitzen. Er fühlte sich ruhig und
konzentriert, wie beim letzten Mal, als Alicen über die Etagen im
Encea-Sektor geklettert ist.
Für
Axii hörten die Worte der Musik auf eine Bedeutung zu haben. Er
wusste nur, dass sie dunkel, bösartig oder hell und gutartig waren.
„Many of the people breathing like fucking rats... wenn du tot
bist, blutest du einfach aus....“
Ein
Grollen kam von oben. Vielleicht gab es da oben einen Gott für die
Menschen, dachte Axii, aber die meisten Menschen waren nun mal hier
unten.
„Was ist hier los!? Sind wir schon abgestumpft? Ist unser Hirn auf
Minimal herabgeschrumpft? Du sagst „Ja“, ich sage „Nein“,
denn verdammt noch mal, ich kann nicht anders sein! ….“
Der
Kommunikator zeigte „Brain Blasting Music“ und darunter „Since
2003“. Er hatte das lange nicht verstanden, bis ihm Alicen erzählt
hatte, dass die Menschen früher schon im Jahr 2003 gelebt haben und
man die Zeit nach dem Impact von neuem zu rechnen anfing. Damals
hatte man die Zeitrechnung auch wegen eines Mannes neu begonnen,
soviel er wusste. Eine ganze Religion ging von diesem Mann aus, eine
der drei größten damals. Heute war es nicht viel anders. Die
Menschen feierten den Dyson-Tag und verehrten ihn wie einen Gott und
beteten die künstliche Intelligenz geradezu an, ohne die, wie die
meisten glaubten, die Welt untergehen würde – zum wie vielten Mal?
„Tief in deiner Zelle, hockst du auf deinen Knien, wartest auf ein
Zeichen, hoffst, er hat dir verziehn, du betest zu dem Kreuze, die
Stille bringt dich um!“
Ein
Wind kam auf. Axii konnte Alicen nicht mehr sehen. Er suchte ihn mit
der Kamera. Verdammt, jetzt hatte er ins Leere gefilmt. Wo war er?
„... kein Mensch! Kein Gott wird dich erhören – Zoelibat!“
Axii
nahm die Kopfhörer aus seinen Ohren und stand auf. Wo war Alicen?
Die Nacht war herein gebrochen und er hatte es gar nicht mit
bekommen. Im Nachtmodus der Kamera suchte er das
Stabilisierungskabel ab aber Alicen blieb verschwunden. Hatten sie
ihn erwischt?
Axii
packte das Tablet ein und die anderen Sachen, die er zum filmen
brauchte, warf sich die Schultertasche um und sprang vom Dach
herunter. Unten landete er auf allen Vieren. Schnell rappelte er sich
auf und rannte über das schlammige Gelände auf den Grenzzaun zu.
„Kommi, verbinde mich mit Alicen“, keuchte er während er rannte.
„Alicen - wird angerufen.“
Er
erreichte den Zaun und kniete sich ins hohe Gras. Auf dem Gelände
blieb es still.
„Axii?“
Axii
hob seinen Kommunikator-Arm und sah auf dem Display Alicens Gesicht.
„Verdammt, wo bist du, man?“
„Pst“, machte Alicen. Er flüsterte. „Du wirst es nicht
glauben, aber ich bin schon wieder auf eine dieser Erbauer-Einheiten
gestoßen.“
„Was?!“
Alicen
nickte.
„Komm runter“, flüsterte Axii.
„Ich kann nicht, das Ding isoliert hier gerade eine aufgerissene
Stelle – hör zu, warte am Zaun auf mich. Ich versuche herunter zu
kommen, wenn das Ding etwas weiter weg ist.“
„Pass auf – du weißt, wie schnell die sein können.“
Alicen
nickte noch einmal und schloss die Verbindung.
Das
Licht ging aus, es wurde dunkel. Im Himmel grollte es wieder. Axii
hockte im Gras und wartete. Die Stille schien durch seine Ohren in
seinen Kopf vorzudringen und ihn taub zu machen. Und der Wind blies
stärker. Er patschte sich seine Haare ins Gesicht aber sie flogen
wieder davon. Er schaute hinauf. Die Wolken stauten sich, sahen aus
wie Wellen aus zähflüssiger Brühe.
„There's a shadow just behind me...“, sang er leise für sich.
„shrouding every step I take – making every promise empty –
pointing every finger at m....“ Er fröstelte, der Wind blies nun
fast wie ein kleiner Sturm. „Waiting like a stalking butler... who
upon the finger rests... murder now the path of must we....“ Er
stellte seinen Kragen auf. „Just because the son has come –
Jesus, won't you fucking whistle – something but the past and done
– Jesus, won't you fucking whistle – something but the past and
done – Why can't we not be sober?“ Es fing an in Strümen zu
regnen. „Wo bleibst du?“
Eine
dicke Raupe kletterte ihm am Hosenbein hoch.
„Trust me, trust me, trust me....“
Und
dann tauchte Alicens Schatten auf dem dicken Kabel auf. Er rannte
herunter. Axii sprang auf, die Raupe flog ins Gras. Es blitzte, ein
helles Licht erhellte den Raum.
„Alicen! Hier!“
Alicen
kam auf dem Gebäude an von dem Axii ihn gefilmt hatte. Dahinter
gingen Lichter an und sie bewegten sich – Taschenlampen.
„Alicen!“
Alicen
sprang vom Dach, machte eine Rolle über den Boden und kam auf Axii
zu. Drei Agil-Droiden kamen ihm hinterher. Sie hatten Taschenlampen
in ihren Händen und alle drei Lichtkegel fingen Alicen ein und
ließen nicht mehr von ihm ab. Er sprang über einige Betonplatten,
die zerbrochen im Schlamm lagen, um die Droiden zu behindern aber sie
sprangen alle drei gleichzeitig mit Leichtigkeit darüber.
„Schneller!“, schrie Axii. Er lief am Zaun entlang, halb zu
Alicen gedreht und stolpernd.
Alicen
kam am Zaun an und lief Axii hinter her.
„Renn“, schrie er zurück.
Alicen
holte schnell auf und beide quetschten sich gleichzeitig durch das
Loch im Zaun dass sie auch benutzt hatten, um auf das Gelände des
Raumhafens zu gelangen. Die Agil-Droiden blieben nur wenige Meter
hinter ihnen stehen.
„Ich habe die Polizei verständigt“, sagte einer der Droiden.
Axii
und Alicen schnauften, der Ragen prasste auf sie herab und der Wind
zerrte an ihren durchnässten Sachen. Die Droiden waren nicht darauf
programmiert, das Gelände zu verlassen aber die Polizei hatten sie
bestimmt informiert, also blieb ihnen nicht allzu viel Zeit.
„Komm“, sagte Alicen, „weg hier!“
Sie
saßen eine halbe Stunde später an der Haltestelle in der Nähe von
Axiis Haus.
„Es
ist gleich 23 Uhr“, sagte Alicen. „Ich muss langsam.“
„Bist du morgen wieder bei den Wandläufern?“
„Ja.“
Sie
berührten sich mit den Fingern und Alicen ging davon. Es regnete
immer noch.
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