Meine beste Freundin, Anita, hatte kein Niveau. Das ich das gedacht habe tut mir genauso Leid wie es mir Leid tut, dass ich meine Mutter hab sitzen lassen. Ich kann sie nicht beschreiben, aber damals hatte ich das Gefühl, dass sie ein noch größerer Außenseiter war als ich, mit dem Unterschied, dass sie es nicht merkte. Vielleicht aber überspielte sie es einfach nur kläglich.
Kennengelernt habe ich sie am ersten Tag, als ich auf die weiterführende Schule kam. Sie setzte sich im Bus neben mich. Auch hier möchte ich glauben, dass es kein Zufall war. Irgendwie rotten sich alle Außenseiter zusammen, genauso, wie sich alle tollen Leute zusammentun und wie sich die Streber finden – ein in den Erbanlagen vorprogrammierter Automatismus beim Menschen. Ausnahmen bestätigen dies.
„Hallo, gehst du auf das Dyson-Klein-Gymnasium?“, hatte sie mit ihrer hellen, für meinen Geschmack viel zu lauten, Stimme, gefragt. Ihre Tasche setzte sie in ihrem Schoß ab und umarmte sie - damals eine Art Mode, es sollte süß aussehen. An der Seite hing eine Figur aus einer erfolgreichen Trickfilm-Serie.
„Ja“, sagte ich.
Ich habe sie noch nie gesehen, sie war eine Fremde und dennoch war ich froh so schnell jemanden gefunden zu haben und nicht mehr allein zu sein. Wenn sie nur etwas ihre Stimme dämpfen würde.
„Du bist Fan von Meeresrauschen“, rief sie so laut, dass einige Fahrgäste ihre Köpfe in ihre Richtung wandten.
Meeresrauschen war eine bekannte Band in der Stadt aber ich zählte nicht zu ihren Fans. Die Bluse mit dem Namen der Band bekam ich mal von meiner Kusine geschenkt, die mich zum Gothic-Pop bekehren wollte. Musik interessierte mich nicht, aber ohne wäre das Leben noch etwas schlimmer.
„Die Bluse habe ich geschenkt bekommen, ich-“, begann ich mich zu erklären und wurde unterbrochen.
„Ich liebe Meeresrauschen“, quietschte sie.
Ich wünschte, ihre verdammten Stimmbänder mochten verkalken.
„Der Sänger ist ein Gott!“
Der Bus hielt. Mir war es peinlich aus zusteigen, ich schämte mich für dieses Mädchen, dass ich nicht kannte.
Am nächsten Tag nach dem Schulfest stand ich vor dem Spiegel und fluchte im Flüsterton. Meine Frisur blieb meine Frisur – keine Frisur. Und Sachen zum Schminken hatte ich nicht. Ohnehin hätte ich mich zwingen müssen.
„Ach, scheiße!“
Anita stand jeden Morgen vor meiner Türe und wartete auf mich. Wir gingen zusammen zur Bushaltestelle. An diesem Tag kam aber alles anders. Anita kam nicht. Vielleicht war sie krank, dachte ich, oder ihr Wecker hatte versagt. Das es einen anderen Grund geben könnte kam mir nicht in den Sinn.
Im Bus setzte ich mich so, dass ich das Mädchen beobachten konnte. In all der Zeit kannte ich ihren Namen immer noch nicht. Aber Namen interessierten mich genau so wenig wie Musik, sie erfüllten bloß ihren Zweck. Neben ihr saß ein Junge und hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt. Es machte ihr nichts aus. Ich konnte es nicht verstehen. Warum ließ sie das zu? Was fand sie an dem Typen?
Dann bemerkte ich Anita. Sie saß in der Sitzreihe hinter dem Mädchen und diesem Vollidioten der sie jetzt halb umarmte. Warum versteckte sie sich? Als hätte jemand Mineralwasser über mein Herz gegossen fühlte es sich an. Meine Freundin lies mich hängen und mein Idol sich von einem Jungen umarmen. Zwei Gefühle auf einmal! Ich glaube meine Schaltkreise im Kopf brannten durch – ich stand auf und stieg an der nächsten Haltestelle aus.
1 Kommentar:
du kannst es. du kannst es richtig gut.
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