Alarm!
Dem wurde schon seit einer sehr langen Zeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Doch an jenem Tag, als die reisende Kolonie mit großer Spannung die neue Welt erwartete, schien der Alarm, der ansonsten nur bedeutete, dass die Schüler sich in die Schulhalle begeben mussten, um nach kurzer Zeit wieder in den Unterricht zurückkehren zu müssen, dem Lehrer Sorgen zu bereiten.
Dort, irgendwo weit außerhalb der Bildungs-Sektion, hinter dicken Wänden aus dem Schiffsmaterial und Dichtungsmitteln, Kabeln und Rohren, zischte es, wie aus einem kaputten Ventil.
Völlig unvorbereitet erhob er sich von seinem Sitz – auf seiner Stirn bildeten sich Falten, sein Blick huschte über das Hologramm an der Wand hinter ihm, welches einen nackten Mann zeigte - und er hob beide Arme, um den Schülern zu deuten sitzen zu bleiben. Etwas stimmte nicht ganz, er musste einen Moment nachdenken, hatte er irgendetwas nicht mitbekommen? Noch bevor er eine Entscheidung fällen konnte, merkten die Schüler in der Klasse, dass tatsächlich etwas nicht ganz nach Plan lief.
Zuerst begannen die Lexika, die jeder Schüler an seinem rechten Arm trug, wie wild Notsignale in den Raum zu strahlen und kurz darauf begann der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren an. Hinzu kam noch dieses Zischen – es hörte sich an, als käme es näher.
Endlich setzte sich der Lehrer in Bewegung. Er schritt durch den Klassenraum und in den Flur hinaus. Man hörte von draußen bereits die Stimmen der anderen Kinder und ihr Getrampel. Sie hörten sich aufgeregt an, als erwarteten sie etwas zu erfahren, dass man ihnen bisher vorenthalten hatte. Ein Geheimnis, ein Flüstern ging durch den Flur und steckte die Kinder in der Klasse an.
„Was ist da los?“ flüsterte jemand in der hintersten Reihe. „Sei mal still!“
Dann fing das Geschrei an – von jetzt auf jetzt - als plötzlich ein Beben die Welt erschütterte.
Ein tiefes Stöhnen und lautes Knacken schallte durch jedermann Ohren, gefolgt von dumpfen Explosionen in weiter Ferne irgendwo in der Megastruktur des Kolonienschiffes. Es standen auf einmal alle auf den Beinen und drängten aus dem Klassenraum hinaus in den Flur, um in die Schulhalle zu laufen.
„Bewahrt Ruhe“, rief der Lehrer, denn viele gerieten schon in Panik. Die unzähligen Probealarme in den Jahren zuvor hatten sie nie auf das vorbereitet, was folgen sollte. Das Erdbeben wurde mit einem Mal so heftig, dass sich kaum jemand auf den Beinen halten konnte. Die Rohre mit den Leitungen, die knapp unter der Decke hingen und sich durch das gesamte Schiff zogen, rissen aus den Verankerungen und knallten zu Boden, begruben Menschen unter sich und verspritzten Funken – gleich darauf war auch schon der erste Qualm zu sehen. Die Geräuschkulisse nahm jedem Konzert den Rekord ab, dabei ging das Geschrei im Klang der Explosionen unter. Und schließlich brach irgendwo auch noch die Schiffshülle. Es hörte sich an, als hätte jemand einen gewaltigen Staubsauger an gemacht, mit welchem nun Felsbrocken gesaugt wurden. Ein Sturm zog auf und fegte durch die Korridore. Er nahm alles mit, was nicht irgendwo befestigt war.
Als die ersten Schüler endlich die Schulhalle erreichten, bildete sich mitten in der Halle eine Spalte. Der Boden bekam einen Riss und fiel dann Stück für Stück in die Tiefe, in ein helles Licht hinein, wie das Licht einer Sonne.
„Zurück!“, schrie jemand. Ein Lehrer tauchte im Durchgang zur Schulhalle auf. „Die Triebwerke sind durchgebrochen!“
Die Massen versuchten nun wieder zurück zu kommen, weg von der Halle. Es gab noch einen Notausgang in den Sporthallen. Doch für eine Rückkehr gab es keinen Platz. Hunderte Unwissende drängten von hinten noch immer zur Halle hin und trampelten sich gegenseitig tot.
Lucca kauerte zwischen zwei Menü-Automaten in der Cafeteria. Sie musste sich gegen die Wand drücken, um nicht durch den Raum zu fliegen. Die Tische bewegten sich, die Stühle fielen um, Glas zerbrach, alles um sie herum wackelte. Und eine ungewöhnliche Kraft zerrte an ihr, sie zog sie an und wollte sie durch den Raum ziehen. Ein Junge, den sie nicht kannte, klebte auf der anderen Seite des Raumes an der Wand und hatte Mühe sich auf zu setzen.
„Komm hier her“, rief er ihr zu. „Wir stürzen ab!“
Lucca schüttelte den Kopf. Wenn sie ihre Stellung aufgab, wusste sie, würde die Kraft sie auf die gegenüberliegende Wand klatschen lassen. Immer stärker zerrte sie nun an ihr ihre Schuhe rutschten langsam über den Boden. Sie drückte sich noch fester gegen die Wand hinter ihr.
„Komm schon“, rief der Junge.
Die Tische und Stühle rutschten, wie von Geisterhand bewegt, zur gegenüberliegenden Wand. Durch das Beben sprangen sie immer wieder auf, fielen um, brachen sich die Beine und krachten ineinander. Und immer wieder stöhnten die Wände laut auf und ein knirschendes Geräusch ging einem durch Mark und Bein.
„Ist da jemand?“ Die Stimme kam aus dem Korridor, der den Zugang zur Cafeteria und der Schulhalle bildete.
„Wir sind hier drin“, schrie der Junge zurück. „Nuk? Bist du das?“
Im selben Moment bekam die Decke über ihnen einen Riss. Die Platten, aus denen sie bestand, fielen zu Boden und gaben den Blick auf dicke Rohre frei, auf Kabel und Schläuche.
„Chace?“ Die Stimme aus dem Korridor klang verweint und panisch. Lucca sah, wie jemand, gegen die Schwerkraft ankämpfend, die sich plötzlich so ungewöhnlich verhielt, in die Cafeteria gestolpert kam. Es war ein Junge ohne Schuhe und er rutschte über den Boden auf die andere Seite des Raumes und krachte ziemlich schlimm in einen Haufen Stühle.
„Nuk?“, rief der Junge auf der anderen Seite des Raumes. „Bist du in Ordnung?“
Nuk stöhnte.
Lucca öffnete ihren Mund um zu schreien. Die Wand hinter ihr explodierte plötzlich. Zerfiel in ihre Einzelteile, schoss durch den Raum und nahm Lucca mit sich. Um sie herum brannte es auf einmal, davon merkte sie aber nicht mehr viel. Sie verlor ihr Bewusstsein, spürte nur noch, dass sie durch die Luft schwebte.
„Nuk!“
Die nächste Explosion verschlang alles. Grelles Licht blitzte auf und erlosch gleich wieder. Das Mädchen spürte sich in völlige Dunkelheit eingehüllt.
„Nuk!“
Nuk versuchte das Feuer mit den Händen abzuwehren. Etwas traf ihn am Kopf aber ihm blieb nicht einmal Zeit, um wegen dem Schmerz auf zu schreien. Staub und etwas, das sich anfühlte wie Sand prasselte auf seine Haut.
„Nuk!“
„Chace? Wo bist du?“
Hart landete Chace auf etwas Unförmigem. Ihm blieb die Luft weg. Er spürte Blut in seinem Mund, dann spürte er gar nichts mehr.
„Wo bist du?“
Noch eine Explosion verschlang den dunklen Raum. Obwohl man nichts mehr sehen konnte, spürte man, wie sich die Massen um einen herum verbogen, brachen, im Feuer schmolzen oder durch die Gegend geschleudert wurden.
Niemand bekam den Augenblick mit, als die Stille wieder einkehrte.
Eine Stille, die nur von einer Brise Wind, der durch das Trümmerfeld ging und dem ruhigen Flackern von vielen Feuern, etwas gestört wurde. Aber noch viel ruhiger wirkte sich das Licht aus, das in das ausgebrannte Wrack schien und Luccas blasses Gesicht wärmte. Es machte, dass sie ruhen konnte, dass ihr Körper zu neuer Energie kam und dass sie schließlich ihre Augen auf machte und ihren Kopf zur Seite drehte, weil die Sonne, die sie durch die tiefe Narbe im Schiff, die sich über mehrere Etagen zog, sehen konnte, sie blendete.
Vorsichtig setzte sie sich auf. Ihr Schulhemd klebte an ihrer Schulter, es war ganz blutig an dieser Stelle aber es tat nicht weh. Mit zusammengekniffenen Augen schaute sie noch einmal auf. Über ihr ragte ein Trümmerfeld auf bis weit in den Himmel und dort wo es endete schaute tatsächlich eine Sonne auf sie herab. Von den einzelnen Etagen stürzten noch immer vereinzelt Fetzen herunter und überall flogen Blätter aus Büchern umher oder Seiten aus der UNCS-News, der Zeitung der Kolonie. Einige Meter von ihr entfernt konnte sie sogar noch einige Stühle aus der Cafeteria ausmachen, die nun auf einem Haufen in der Nähe gigantischer Boiler lagen. Ein zerteilter Reinigungsroboter klemmte erschlagen zwischen zwei Etagenschichten. Und dort wo einmal eine Schleuse gewesen sein muss, klebte eine große Lache Blut. Lucca wandte sich ab und schaute noch einmal auf. Sie schloss die Augen und blieb einfach sitzen.
Nuk hielt seine rechte Hand in seiner linken und weinte. Er stand im Eingang zu einem Korridor den er noch nie gesehen hatte und starrte schluchzend in die Dunkelheit. Er konnte seine Finger nicht mehr bewegen, sie taten auch höllisch weh und in seinem Gesicht spürte er Blut kleben. Er traute sich nicht irgendetwas zu machen, am liebsten hätte er sogar mit dem Atmen aufgehört.
„Nuk?“
Die Stimme kannte er. Jemand hustete und dieses Husten kannte er auch. Er drehte sich um.
„Chace?“
Chace hatte nur noch einige Fetzen an und seine Schuhe. Seine Haare klebten merkwürdig an seinem Kopf und er hatte nicht mehr allzu viele davon. In seinem Gesicht und auf seinen nackten Schultern hatte sich klebriger Ruß fest gesetzt.
„Scheiße, Chace?“
„Yo“, murmelte Chace und fiel auf die Knie. „Mir ist was übel.“
Er fiel der Länge nach hin und blieb liegen, atmete zum Glück aber noch, jedoch rasselte es in ihm jedes Mal wenn er Luft holte. Nuk humpelte zu ihm und setzte sich.
„Chace?“
Der Flur zur Schulhalle glühte noch. Die Säulen, die die Etagenschichten stützten konnte man sehen, da die Wände überall eingestürzt oder geschmolzen waren. Dort wo einst die Schulhalle, mit dem großen Kastanienbaum, gewesen ist, lag nun eine schwarze aber noch Glühende Kugel von der Größe eines Hauses auf der Erde.
Fanka zog ihr Schulhemd aus. Sie riss mit einem Ruck beide Ärmel ab und schleifte sich über den Boden zu ihrer Freundin. Kora saß an die Wand gelehnt und presste beide Arme auf ihr Knie.
„Lass mich mal“, flüsterte Fanka. Die Hitze machte ihr zu schaffen. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Was ist mit den anderen?“, fragte Kora. Fanke zuckte nur mit den Schultern und presste einen der Ärmel, den sie zusammengeknüllt hatte, auf Koras Wunde. Mit dem anderen Ärmel band sie den geknüllten Stoff fest an Koras Bein.
„Was ist passiert?“
„166 Sektionen wurden voneinander getrennt – Neuoptimierung der KI läuft. Wartungsarbeiten sind voraussichtlich in 3 Stunden beendet, bitte loggen sie sich in der Zeit nicht an das System an, danke!“
Eliott fühlte sich gleich etwas sicherer, als er die Stimme des Computers hörte. Er warf die Bettdecke ab und kletterte vom Bett. Er wollte sofort mit seinen Eltern sprechen und hoffte, das Kommunikationssystem möge noch funktionieren. Im Wohnraum lagen alle Möbel zerschlagen an der Wand zur Rechten. Die Schleuse stand offen aber draußen im Flur war niemand zu sehen. Immerhin brannte das Licht noch. Eliott durchquerte den Raum und schaute in den Flur hinaus. An beiden Enden des Flures funktionierte das Licht jedoch nicht mehr und dort war es sehr dunkel und still.
„Computer?“, rief er.
„Im Moment laufen Wartungsarbeiten, bitte haben sie noch etwas Geduld. Die Wartungsarbeiten sind voraussichtlich in 16 Stunden beendet. Bitte loggen sie sich in der Zeit nicht an das System an, danke!“
Eliott schaute auf das dunkle Display seines Armcomputers. Es zeigte eine Reihe von Defekten an, die alle etwas mit dem Netzwerk zu tun hatten – folglich konnte er das Gerät auch nicht benutzen.
„Hallo?“, rief der Junge in den leeren Flur hinein.
Er trat in den Flur hinaus. Unter seinen Füßen begann der Boden zu ächzen. An der Wand entlang schlich er den Flur entlang auf die Dunkelheit zu.
Chace drehte sich auf den Rücken. Nuk half ihm dabei.
„Was ist passiert?“, fragte Nuk.
Chace stöhnte.
„Das Schiff ist irgendwo abgestürzt“, sagte Nuk, „nicht wahr?“
Chace zuckte leicht mit den Schultern. Seine Haut im Gesicht fühlte sich sehr angespannt an und seine Schultern brannten. Er strich sich durch sein verkohltes Haar. Es war kaum noch etwas übrig von seinem blonden Schopf.
„Nuk, wir müssen hier raus“, murmelte er und setzte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht hin. „Das Schiff könnte explodieren.“
„Was?“
Nuk starrte Chace entsetzt an.
„Ich glaube, du musst mir etwas helfen“, sagte Chace, „ich kann nicht so gut gehen.“
Nuk nickte und half Chace beim Aufstehen. Beide wackelten zitternd durch das Trümmerfeld und verschwanden in einem dunklen Korridor der sie zum Raumhafen führen würde.
Lucca hörte Stimmen. Sie kamen ganz aus der Nähe. Jemand unterhielt sich – zwei Personen. Einer von ihnen schien Schmerzen zu haben. Sie folgte den Stimmen aber das war nicht ganz so einfach. Überall lagen Stützpfeiler und Unmengen von Kabeln die so dick waren wie Autoreifen. Sie musste an einer Stelle klettern und sich dann zwischen Schutt und Rohre quetschen, um auf die andere Seite zu kommen. Dort rutschte sie auf einmal aus. Der ganze Boden schien nass zu sein, sie konnte aber nicht erkennen was es war. Einige Schritte weiter stolperte sie dann über etwas Gummiartiges. Mit ihren Händen tastete sie herum und hielt als nächstes eine menschliche Hand in ihren. Erschrocken ließ sie sie wieder los.
„Hallo?“, fragte sie.
Keine Antwort. Plötzlich wurde ihr bewusst, wie still es war und das sie kaum etwas sehen konnte. Gerade als sie daran dachte wieder um zu kehren und sich wieder in die Sonne zu legen, hörte sie wieder die Stimmen.
„Hallo!“, rief sie laut und hastete durch die Dunkelheit. Noch einmal stolperte sie über etwas oder jemanden aber dieses Mal wollte sie nicht wissen was oder wer dort lag. Sie musste die Stimmen erreichen, bevor sie nicht mehr da waren.
Fanka zog mit aller Macht an der Schleuse, die nur einen Spalt weit offen stand. Sie steckte ihre Finger in den Spalt, stemmte sich mit einem Fuß von der Wand weg und zog. Aber die schwere Schleuse rührte sich nicht. Dahinter lagen die Sporthallen und von dort aus war es nicht mehr weit bis zu den Liften die hinauf in die Stadt fuhren. Einen anderen Weg hinaus kannte sie nicht. Kora saß wieder auf dem Boden und ließ ihren Kopf hängen. Ihr Gesicht war ganz blass und sie atmete schwer.
Fanka schrie auf vor Zorn und weil sie nichts tun konnte. Wütend trat sie gegen die Wand und boxte mit bloßer Hand gegen die Schleuse. Dann kniete sie sich hin, ihre Hand in ihr Schulhemd einwickelnd und fing an zu weinen. Der Schmerz ließ nur sehr langsam nach.
„Es gibt- „, begann Kora und brach ab. Fanka sah auf.
„Was?“
„Es gibt bestimmt einen anderen Weg.“
Fanka schüttelte den Kopf. Sie kauerte sich in die Ecke und schaute durch den Spalt auf die andere Seite. Die Hallen konnte sie nicht sehen, vielleicht waren sie auch explodiert.
Nuk blieb stehen. Chace hing immer mehr an ihm und lief kaum noch selbst. Vorsichtig kniete er sich mit seinem Freund hin und legte ihn auf dem Boden ab. Eine Brise frischen Windes blies ihm ins Gesicht. Und er vernahm einen süßlichen Duft den er noch niemals zuvor in der Nase gehabt hatte.
„Jemand backt Süßes, Chace – riechst du das auch?“
Chace antwortete nicht. Nuk schüttelte ihn.
„Hör auf“, stöhnte Chace. Nuk atmete erleichtert aus.
„Hör mal, ich schaue mich hier etwas um, du wartest- ich meine, ich lasse dich hier aber ich komme gleich wieder.“
Chace nickte schwach.
Lucca kam in einen breiteren Korridor in dem sogar noch Licht brannte. Es war niemand mehr da, sie kam zu spät. Sie ließ kurz die Schultern hängen und lief dann einfach dem neuen Gang entlang. Am Ende tauchte eine große Maschine auf, mit Rohrleitungen und Kabeln. Wasser drang dort aus dem Boden und floss wieder in die Kanalisation, trotzdem hatten sich überall Zentimeter tiefe Wasserlachen gebildet. In der Maschine surrte es noch.
Lucca watete durch das Wasser und blieb vor dem Ding stehen. Es reichte bis unter die Decke, diese jedoch war von einer Seite herab gestürzt und versperrte den Gang nach rechts. Links führte eine Art Gosse um die Maschine herum.
Lucca folgte der Gosse und kam auf der anderen Seite der Maschine in einer gigantischen Halle heraus. Hier schlossen dicke Rohrleitungen an die Maschine und führten von ihr weg bis auf die andere Seite der Halle. Dort verschwanden sie wieder im Boden oder führten herauf zur Decke und schlossen an sie an. Der Boden in der Mitte der Halle lag einige Meter tiefer – Lucca konnte in die Etage darunter sehen und sah hunderte Menschen auf dem Boden liegen. Niemand rührte sich. Viele von ihnen sahen schlimm zugerichtet aus, andere bestanden nur noch aus Hackfleisch und Knochen. Die wenigen, die noch ganz geblieben waren, sahen aus wie Zombies – kalkweiß im Gesicht und alt.
Lucca beeilte sich die Halle an einer Wand entlang zu durchqueren, doch ihr Blick landete immer wieder auf den Leichen dort unten und dann wurde ihr klar, was um sie herum eigentlich passierte. Das Kolonienschiff ist auf einem Planeten abgestürzt. Ihre ganze Welt, in der sie ihr Leben lang gewohnt hatte, lag in Trümmern und keiner würde sie wieder reparieren können.
Sie kam ziemlich verstört auf der anderen Seite an. Hier standen Kanister an der Wand die mindestens eine Tonne wogen und so groß waren wie eine Fähre. Lucca legte ihre Hand auf die gummiartige Wand eines der Kanister und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Wo wollte sie eigentlich hin?
„Hey! Du da!“
Erschrocken wirbelte sie herum. Ein Junge stand in einigen Metern Entfernung vor ihr und lächelte. Es war Nuk.
„Was?“, sagte Lucca.
Nuk kam zu ihr.
„Ich dachte schon, wir seien die einzigen“, freute er sich.
Lucca nahm ihn in ihre Arme, als er bei ihr ankam. Er blieb überrascht stehen und umarmte das Mädchen dann auch. Aus irgendeinem Grund, den er in dem Moment nicht ausmachen konnte, kamen ihm die Tränen in die Augen geschossen – vielleicht weil seine Hand auf einmal wieder höllisch zu schmerzen anfing.
„Chace liegt im Flur dort hinten“, erzählte er. „Ihn hat es ziemlich arg erwischt, aber ich denke er kommt durch.“
Lucca nickte.
Fanka kletterte über einige Trümmer, die den Gang, in welchem sich die zwei Mädchen gerade befanden, versperrte. Kora schleifte ihr verletztes Bein hinter sich her und kam nur mit Hilfe ihrer Hände vorwärts. Fanka half ihr auf der anderen Seite von den Trümmern herunter und stützte sie, als sie ihren Weg fortsetzten. Sie hatten keine Ahnung wohin.
„Wolltest du nicht ein Abenteuer erleben?“, fragte Kora und lachte, doch der Schmerz in ihrem Bein ließ sie schnell wieder verstummen.
„Habe ich mir anders vorgestellt“, murmelte Fanka.
Eine Weile quälten sie sich durch den Gang ohne ein Wort zu sagen, dann blieb Fanka stehen.
„Glaubst du, sie suchen nach uns?“
Kora lächelte.
„Was glaubst du wohl? Natürlich suchen sie nach uns.“
Sie setzten ihren Weg fort. Schritt für Schritt kamen sie dem Treppenhaus näher, der sie nach oben die Naturwissenschafts-Räume führen konnte oder nach unten in den Keller indem die Oberstufe ihre Pausenräume hatte.
„Wohin?“, wollte Kora wissen, als sie ankamen.
Fanka zuckte mit den Schultern. Seit sie die Trümmer im Gang hinter sich gelassen hatten, musste sie ständig an ihre Eltern denken.
„Lass uns mal schauen, wie die Oberstufe ihre Pausen verbringt“, schlug Kora vor.
Fanka lächelte schwach. Sie lehnte sich gegen die Wand und schaute Kora an, die trotz ihrer Wunde und den Schmerzen, die sie ertragen musste, anscheinend bester Hoffnung war und sich keine Sorgen zu machen schien. Aber vielleicht versuchte sie einfach nur stark zu bleiben, weil zwei hoffnungslose Fälle ganz einfach hoffnungslos verloren wären in diesem Horror. Fanka atmete aus. Es wird wieder alles gut werden.
„Na gut, schauen wir mal“, sagte sie.
Kora stützte sich am Geländer fest und stellte sich auf die Treppen. Normalerweise rollte man einfach herunter oder herauf aber ohne Energie funktionierten die Rolltreppen nun mal nicht. Also stützte Fanka Kora von der anderen Seite und beide stiegen Stufe für Stufe in den Keller herunter.
Lucca und Nuk kamen bei Chace an. Ihm schien es wieder ein wenig besser zu gehen. Er hatte sich hin gesetzt und wischte sich den klebrigen Ruß mit dem Schulhemd von seiner Haut.
„He!“, rief er. „Du bist doch das Mädchen aus der Cafeteria, oder?“
Lucca nickte.
Nuk setzte sich neben Chace. Die beiden Jungen sahen Lucca an und warteten darauf, dass sie etwas sagte. Lucca konnte ihre Gedanken noch immer nicht ganz in Ordnung bringen – alles verwirrte sie und sie hatte Angst. Trotzdem setzte sie sich auf eine Kiste aus Kunstholz und schaute zurück.
„Wer seid ihr?“, fragte sie schließlich.
Sie stellten sich vor.
„Chace ist ins Feuer geraten, er sieht ansonsten nicht so scheiße aus“, erklärte Nuk noch und Chace boxte ihn freundschaftlich gegen die Schulter.
„Wo sind die Erwachsenen abgeblieben?“, fragte Lucca, um endlich etwas los zu werden, was sie so sehr beschäftigte. „Wo ist der Rest?“
Nuk zuckte mit den Schultern. Er senkte seinen Blick zu Boden und begann damit seine Schuhe fest zu ziehen. Lucca schloss ihre Augen. Stille kehrte wieder ein aber dieses Mal war sie nicht mehr so schön, wie vorhin, als sie in der Sonne lag.
„Was sollen wir tun?“, fragte sie.
Chace räusperte sich sagte aber nichts. Er dachte nach. Nuk zuckte wieder mit den Schultern.
„Wir sind ganz in der Nähe der Docks, nicht wahr?“, fragte Lucca.
Nuk nickte dieses Mal.
„Ja“, antwortete Chace.
„Ich habe keinen Eingang gefunden“, sagte Nuk.
Lucca bemerkte Blut an ihren Händen. Es war nicht ihr eigenes. Es sah aus, wie getrocknete Farbe die zum größten Teil abgeblättert war. Sie wischte ihre Hände an der Jeans ab, es half natürlich nichts, das Zeug blieb kleben. Auch ihre Schuhe waren nicht mehr weiß sondern rot. Sie musste aussehen wie ein Zombie.
„Da muss irgendetwas sein“, murmelte Chace.
„Da stehen doch immer die Frachter im Startbereich, ich hätte sie bestimmt bemerkt – es war nichts da“, sagte Nuk.
Lucca zog ihre Schuhe aus und warf sie gegen die Wand. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, zog ihr linkes Bein zu sich und blieb so sitzen. Stille kehrte ein.
Kora musste eine kurze Pause einlegen. Sie kramte zwei Riegel aus Schokolade, verpackt in schwarzes Papier, aus ihrer Hosentasche und reichte Fanka einen davon.
„Schön aufessen, das sind ganz noble Schoko-Riegel“, erklärte sie mit ernster Miene.
Fanka musste lachen.
„Du bist behindert!“
Kora lächelte und steckte sich den Riegel in den Mund. Die zwei Mädchen setzten sich auf den Boden. Der Pausenraum der Oberstufe lag direkt voraus und dort brannte noch Licht. Fanka stand wieder auf, sie ging durch den Gang und blickte in den Raum hinein. Auch hier lag die ganze Einrichtung zertrümmert an einer Wand aber zur Linken fehlte eine Wand und Fanka blickte auf etwas sehr merkwürdiges. Es sah aus, wie verbrannte Blumenerde. Eine Unmenge von verbrannter Blumenerde. Und eine Brise Wind huschte ihr durchs Haar.