Da war was! In den
Büschen, nicht sehr tief im Wald. Egid kniete sich hin. Es raschelte
und dann hörte Egid wieder die Stimme: „Hmmmn-ja.“ Und ein
Kichern. Etwas großes mit rostrotem Fell hockte dort im Busch und
schmatzte gierig. Vorsichtig schlich Egid auf allen Vieren näher
heran doch er war nicht leise genug.
„Hm?!“ Das Wesen
erstarrte. Es drehte seinen Kopf in Egids Richtung und Egid blickte
jetzt wahrscheinlich direkt in seine Augen, auch wenn er es nicht
sehen konnte. Gerade als Egid begriff, dass es sich bei dem Wesen um
einen Menschen handelte, sprang es aus dem Busch auf ihn zu. Egid
sprang auch auf, um rücklings zurück zu stolpern. Vor ihm landete
ein Mädchen mit unglaublich vielen Haaren auf dem Kopf und mit
genauso rostroten Augen wie diese. Das Haar reichte bis zum Boden,
flocht sich um ihre Arme, um die Brust herum und ihre Beine. Darunter
trug sie so etwas wie einen Kartoffelsack aber Egid konnte aufgrund
der Haarmenge nicht erkennen was es war.
Er stand wie angewurzelt
da und starrte sie an. Sie zeigte ihm die Zähne und knurrte: „Grrr!“
Sie stand da, wie zu einem weiteren Sprung bereit. Egid machte einen
vorsichtigen Schritt zurück. Da stellte sie sich gerade hin und fing
an zu lächeln. Ein wildes Mädchen aus dem Wald? Egid entspannte
sich – sie war um einen halben Kopf kleiner als er.
„Hallo“, sagte er
und aus irgendeinem Grund zeigte er mit dem Zeigefinger auf sich
selbst. „Ich – Egid!“ Sie guckte jetzt etwas verblüfft.
„Egid“, sagte sie,
Egids Stimme nachahmend.
Egid nickte. Noch einmal
zeigte er auf sich selbst und wiederholte seinen Namen.
„Egid – und du?“
Er zeigte auf sie.
Sie lächelte nicht mehr,
sie fand Egid anscheinend lustig, denn jetzt lachte sie laut und
hielt sich den Bauch. Ihre Stimme hallte im Wald wider. Dann zeigte
sie auf sich.
„Ich –
Zitrokokinunoki“, sagte sie und fügte hinzu, „aber meine Freunde
nennen mich Nä-nä.“
Jetzt schaute Egid
verblüfft.
„Du kannst ja
sprechen“, sagte er etwas zu überrascht. „Ich meine, tut mir
Leid.“ Verlegen kratzte er sich am Hinterkopf.
Das Mädchen lächelte
wieder, streckte ihm ihre Hand entgegen. In ihr lagen drei große
Waldbeeren. Diese hatte sie wohl verspeist, als Egid sie gestört
hatte. Ihre Lippen und auch ein größerer Teil ihres Gesichts
zeugten davon wie sehr es ihr geschmeckt hatte.
Egid nahm eine Beere. Er
warf sie sich in den Mund und würgte sie runter. Er hätte sie
lieber auf den Boden geworfen aber sie beobachtete ihn höchst
interessiert. Immerhin schmeckte sie nach gar nichts – fühlte sich
an wie Wasser in einer Blase.
„Lebst du im Wald?“,
fragte Egid.
„Ja, auf einem Baum
und du?“
Egid drehte den Kopf
zurück zur Straße.
„In einem der Häuser
auf der Straße“, sagte er. „Wie lange lebst du denn schon im
Wald?“
„Weiß ich nicht mehr.
Ich glaube, schon immer.“
„Hast du denn keine
Eltern oder so?“
„Nein, aber ich habe
viele Freunde“, sagte sie und griff dabei in ihr Haar unter ihrem
linken Ohr – jedenfalls vermutete Egid dort ihr Ohr. Sie hatte
plötzlich eine kleine, schwarze Eidechse auf ihrer Hand. Zunächst
erschrocken wich Egid halb zurück, kam dann aber wieder näher. Das
Tier lag faul auf ihrer Hand und starrte ihn mit seinen Glubschaugen
an – züngelte einmal und schaute weg.
„Das ist Wasn, er
kommt immer dahin mit wo ich hin gehe“, erzählte das Mädchen
Nä-nä, „aber meistens sehe ich ihn nicht, weil er sich in meinen
Haaren versteckt.“
Egid lachte.
„Was für andere
Freunde hast du noch?“
„Ganz viele, sie leben
im Wald aber ich habe auch Freunde die in der Stadt leben. Ich kann
sie dir zeigen. Komm mit!“
Sie packte ihn am
Handgelenk und zog ihn hinter sich her tiefer in den Wald hinein. Und
da machte sich ein Geräusch breit, das Egid noch nie in seinem Leben
gehört hatte. Es fühlte sich an, als seien seine Ohren nur noch
dazu da dieses Geräusch zu hören und seien für alles andere taub.
„Was ist das?“,
fragte er, gleichzeitig versuchte er sich los zu machen. „Warte,
ich glaube nicht, dass wir so tief hinein gehen sollten.“
Nä-nä blieb stehen.
„Aber meine Freunde
leben mehr tiefer im Wald“, sagte sie, ihre Stimme enthielt einen
Hauch Enttäuschung. Doch sie klang auf einmal so klar und Egid
fühlte sich immer noch taub.
„Was ist das für ein
Geräusch?“, fragte er.
Sie horchte.
„Ich höre nichts.“
Sie versuchte ihn wieder behutsam mit sich zu ziehen. „Komm, es ist
nicht so weit.“
Egid atmete einmal tief
durch.
„Na schön, aber
langsamer.“
Sie nickte. Beide gingen
weiter, wobei Egid seine Schwierigkeiten damit hatte stehen zu
bleiben und nicht hin zu fallen. Auf dem Boden wucherten Sträucher
bis zu den Knien hoch und darunter bildeten wirr verschlungene
Wurzeln natürliche Stolperfallen. Und schließlich fiel er auch hin,
gerade als Nä-nä rief: „Oh, da ist die Eule! Warum hast du dich
auf den Boden gelegt?“
Sie zeigte in die Äste
eines hohen Baumes hoch und schaute gleichzeitig verdutzt zu Egid
hinab. Egid stand auf.
„Ich hab mich nicht
hingelegt“, seufzte er, sich die Hosen abklopfend.
Im Baum saß tatsächlich
eine große dunkelbraune Eule und döste vor sich hin.
„Eule!!“, schrie
Nä-nä so laut das die Eule und auch Egid zusammen zuckten. Die Eule
gab ein lautes Kreischen von sich, drehte ihnen den Rücken zu und
schlief weiter.
„Hm“, machte Nä-nä,
„sie arbeitet in der Nacht, weißt du? Am Tag schläft sie.“
„Ich glaube, das
machen alle Eulen“, sagte Egid.
Sie blickte ihn
überrascht an und fing an zu strahlen.
„Ich finde toll, dass
du das weißt, Egid. Meine Freunde aus der Stadt wissen so etwas
nicht.“
„Was für Freunde hast
du in der Stadt? Sind es -ähm- Menschen?“
Sie nickte.
„Der Eismann schenkt
mir manchmal ein Eis und da ist auch die alte Lady die Vögel füttert
wenn es kalt wird und der Förster der mich gerne schnappt.“ Sie
lachte. „Aber er hat mich noch nie geschnappt.“
„Warum jagt er dich?“
Nä-nä zuckte mit den
Schultern.
„Aber es ist immer
lustig. Komm weiter!“
Sie nahm ihn an die Hand
aber Egid fasste sie an der Schulter, um sie auf zu halten. Ihre
Haare fühlten sich wie Stroh an.
„Nä-nä, ich muss
zurück nach Hause, mein Vater weiß nicht, dass ich hier bin, er
wird sich schon Sorgen machen.“
Jetzt war die
Enttäuschung in ihrem Gesicht ganz deutlich zu sehen aber nur kurz,
dann lächelte sie plötzlich.
„Dann zeige ich dir
die anderen Freunde morgen!“
Egid nickte.
„Ja, ich komme morgen
wieder.“
Sie lachte, winkte ihm
zum Abschied und rannte durch das Dickicht in den Wald hinein. Egid
sah ihr nach, bis sie irgendwo zwischen den Bäumen verschwunden war.
Auf dem Rückweg hatte er jede Menge zum Nachdenken. Konnte es
wirklich so sein, wie es gewesen ist? Es würde ihn nicht wundern,
wenn er morgen aufwachen und glauben würde, dass er bloß geträumt
hatte.
Er kam auf die Straße
und in seinen Ohren begann es laut zu rauschen. Er gewöhnte sich
schnell daran denn dieses Rauschen war seinen Ohren wohl bekannt aber
jetzt wusste er, was er gehört hatte, als er den Wald betreten
hatte. Stille!