Und dann war es wieder früher Morgen. Wie gerne wäre sie im Schlaf gestorben. So, ohne es zu merken – ganz einfach. Nicht noch einen Tag wollte sie erleben, nicht hier, nein, einfach nicht mehr leben, egal wo und wie. Etwas anderes konnte sie sich ohnehin nicht mehr vorstellen. Nur der Schlaf und die Hoffnung nicht mehr wach zu werden ließ sie weiter machen. Es blieb still. Vielleicht war es noch zu früh? Sie wollte schnell wieder einschlafen. Jede Minute Schlaf war so kostbar wie das Leben eines glücklichen Menschen.
„Aufstehen!“
Angst durchflutete ihr Herz. Sie kroch in jedes ihrer Glieder und in den Kopf. In ihrer Brust pochte es so sehr, dass sie es deutlich hören konnte. Diese Angst und Panik ließ sie sofort ihre löchrige Decke aufschlagen und aufstehen. In ihrem Kopf drehte sich alles, ihr Kreislauf war noch nicht soweit. Kurz wurde ihr Schwarz vor Augen aber sie blieb stehen. Auch die anderen standen alle und starrten ins Nichts wie Zombies. Niemand von ihnen sah aus wie ein Mensch.
„In einer Reihe!“
Es gab kein Gedränge. Alles passierte wie schon hundert Mal geprobt. Jeder hatte seinen Platz und jeder tat die gleichen Schritte, um sich an seinen Platz zu stellen. So dauerte es nur einen Augenblick und es hatten sich zwei Reihen gebildet. Jeden Morgen das gleiche, jeden Tag. Man könnte meinen, immer wieder den gleichen Morgen zu erleben.
Und auf einmal geschah etwas Neues. Ein Stöhnen aus der Reihe nebenan und im nächsten Moment lag ein Mann auf dem Boden. Er fiel einfach hin und blieb liegen, fast so, als hätte er nie gelebt.
„In einer Reihe!“
Er blieb einfach liegen. Man spürte eine unsichtbare Unruhe aufsteigen. Niemand zuckte auch nur, geschweige den, gab einen Ton von sich und trotzdem spürte man die Nervosität und Angst eines Jeden. Und als die Schritte des Chefs durch die Halle hallten waren die Nerven kurz vor dem Zerreißen.
„Stell dich wieder hin!“
Der Chef stoppte abrupt vor dem Liegenden und stieß ihm mit seinen Stiefeln eine Wolke Dreck ins Gesicht. Trotzdem rührte sich der Tote nicht mehr. Eine Weile starrte der Chef mit hasserfüllten Augen auf den knochigen Haufen unter sich, dann drehte er sich auf dem Absatz um und marschierte zurück an die Spitze der beiden Reihen. Niemand rührte sich.
„Folgen!“
Die Reihen setzten sich in Bewegung. Vor ihnen war das große Tor. Es führte aus der Halle raus in einen Hof. Auch dort kannte jeder seinen Platz, wenn es in der Nacht nicht geschneit hätte, würde jeder in seinen eigenen Fußstapfen vom Vortag stehen.
Der kalte Schnee biss durch das dünne Leder ihrer Schuhe. Es waren zwei rechte Schuhe und der rechte Schuh an ihrem Linken Fuß drückte etwas. Aber das war nicht so schlimm, wie die nasse Kälte des Schnees. Nach einer viel zu kurzen Weile brannten ihre Füße bereits wie in Feuer. Trotzdem wollte sie sich nicht beklagen. Viel schlimmer waren diejenigen dran, die überhaupt keine Schuhe mehr hatten.
„Stehen bleiben, nicht rühren!“
Der Chef ging wie ein Offizier an den zerlumpten Reihen vorbei und begutachtete sie, wobei er angewidert seinen Mund verzog. Dann blieb er vor ihr stehen.
„Wieso stinkst du nach Urin?“
Tränen schossen ihr in die Augen. Nicht, weil sie sich wegen ihres Körpergeruchs schämte, Hygiene hatte für sie alle schon seit Langem keine Bedeutung mehr, sondern aus Angst vor dem Chef. Sie wusste, dass er ihr etwas Schlimmes antun würde, egal was auch immer sie jetzt sagte oder tat.
„Weiß nicht“, weinte sie.
Er nahm tief Luft.
„Du stinkst, wie ein Schwein und du weißt nicht warum?!“, donnerte er. „Du hast dir in die Hosen gemacht, du Schwein!“
Wieder holte er Luft.
„Es gibt Toiletten! Da geht man hin! Und da wird gekackt und gepisst! Und du kackst dir in die Hosen du faules Schwein!“
Beim Schreien flogen feine Tropfen aus seinem Mund und flogen durch die Luft.
„Glaubst du, ich will dein dreckiges Innenleben in meiner Nase haben?!“
Sie weinte aber es kamen keine Tränen. Eigentlich war ich überhaupt nicht nach Weinen zumute. Aus irgendeinem Grund jedoch, glaubte sie, sie müsste gerade weinen, weil der Chef sonst noch schlimmer werden würde. Sie zitterte am ganzen Körper und hatte Mühe sich nicht einfach fallen zu lassen, einfach loslassen. Aber dann würde genau das passieren, weswegen sich der Chef gerade lauthals und brutal beschwerte.
„Du stinkendes Schwein! Du steigst jetzt da rein!“ Er zeigte auf eine Wassertonne voll eiskaltem Regenwassers. „Und dann wäscht du dir deinen Arsch!“
Er hatte sich einen Gummihandschuh angezogen während er ihr seine letzten Worte ins Gesicht spuckte und packte sie am Hals. Wie einen Kadaver hob er sie vom Boden, um sie dann in den Schneeschlamm Richtung Wassertonne zu schleudern.
„Beweg dich!“
Sie stand schnell wieder auf. Ihr Hemd hing nass, dreckig und schwer an ihr herab und ihre Hose rutschte ihr herunter. Sie achtete nicht darauf, lief stolpernd und schluchzend zur Tonne, zog ihr Hemd aus und stieg in das kalte Wasser. Augenblicklich schienen ihre Beine auf zu platzen und verkrampften stark. Der Schmerz stach bis in ihren Bauch, als hätte eine Hand in ihr nach all ihren Därmen gegriffen, um sie nach unten zu ziehen.
Der Chef schrie sie an. Er stand ganz in der Nähe aber sie hörte ihn so gut wie gar nicht. Sie hörte überhaupt nichts mehr. Und sie spürte auch nicht das Wasser – es war bloß ein bisschen kalt.
1 Kommentar:
ziemlich sehr böse.
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