Sonntag, 6. November 2016

Besuch der Stufe 3 (2)

 Es waren bestimmt 6000 Sterne zu sehen in dieser Nacht. Sophie zeigte auf einen besonders großen.
„Kommst du von da?“
Ja.“
Sie zeigte auf einen anderen Stern.
„Und von da?“
Ja, auch von da.“
Sie schwiegen lange. Sophie dachte an den Mann der gestorben war. Sie fragte sich, wo er jetzt ist.
Er liegt noch im Krankenhaus, im Kühlhaus.“
„Du sollst meine Gedanken nicht lesen.“
Gut, ich werde sie nicht mehr lesen.“
Sophie drehte sich auf die Seite. Die Bank war hart und zu schmal, sie konnte nicht einschlafen obwohl sie müde war.
„Auf wie vielen Sternen wart ihr schon?“
Wir leben im gesamten Raum, der Raum ist unser Zuhause.“
„Ist es nicht einsam im Raum?“
Wir sind immer zusammen.“
„Jetzt auch?“
Ja.“
Ein Polizeiwagen kam langsam über den Weg gerollt und hielt nicht weit entfernt.
„Warum sprechen die anderen nicht mit mir?“
Wir sprechen alle zu dir, aber nur mit einer Stimme.“
Ein Polizist und eine Polizistin stiegen aus und kamen auf Sophie zu. Sie blieben direkt vor ihr stehen und sagten nichts.
„Hm“, machte Sophie. „Kinder dürfen in der Nacht nicht alleine herumlaufen.“
Ich weiß.“
Die beiden Polizisten standen wie angewurzelt da. Beide sahen sie sehr nachdenklich aus.
„Was hast du gemacht?“
Sie denken über das Verhalten von Katzen nach.“
Sophie lachte.
„Wie seht ihr aus?“
Wie das Spiegelbild des Nichts, das Etwas oder das Alles.“
Sophie runzelte die Stirn.
Es lässt sich nicht mit Worten erklären, Sophie.“
„Was ist das Spiegelbild des Nichts?“
Das Spiegelbild des Nichts ist das Etwas. Ich werde es dir zeigen.“
Sophie stand auf.
„Wohin gehen wir?“
Siehst du meine Hand?“
Sophie machte große Augen, als eine gewaltige Hand direkt hinter den beiden schwer nachdenkenden Polizisten aus dem Nichts erschien. Diese Hand gehörte zu einem langen Arm der bis zu den Sternen reichte und vielleicht irgendwo im Orbit zu einem Körper gehörte.
Steige auf die Handfläche.“
Sophie kletterte rauf und die Hand hob sie in den Nachthimmel, weit hinauf, bis sie die leuchtende Erdkugel unter sich sehen konnte. Die Erde entfernte sich mit rasantem Tempo, innerhalb von Sekunden schrumpfte sie zu einer Erbse und kurz darauf war sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Stattdessen konnte Sophie immer mehr Sterne sehen, sie waren überall. Als sie merkte, dass sie sich nicht auf die Sterne zubewegte, sondern von ihnen weg, hatte sie schon die ganze Milchstraße in ihrem Blickfeld. Und dann tauchten plötzlich andere Milchstraßen auf, manche doppelt so groß, wie die aus der sie kam. Und diese Galaxien schienen sich zu unförmigen Haufen zusammen zu ballen, während überall wo sie hinsah noch mehr dieser Galaxienhaufen auftauchten und diese Haufen reihten sich wie Perlen an einer Kette zu langen Fäden auf und bildeten schließlich ein gewaltiges Netz aus leuchtenden Fäden, die scheinbar kein Ende hatten.
„Das ist das Universum?“, fragte sie.
Ein Teil davon.“
„Wie groß ist es?“
Es ist unendlich groß, aber es hat einen Anfang und irgendwann auch ein Ende.“
Sophie stand auf und drehte sich einmal um ihre eigene Achse. Das Netz war überall.
„Können wir noch weiter weg?“
Das könnten wir aber wir würden nichts anderes mehr sehen außer das, was wir jetzt auch sehen. Das ist das Universum.“
„Aber ich würde es gerne vom Rand aus sehen, wirklich alles.“
Es gibt keinen Rand, einen Rand gibt es nur auf einem Blatt Papier aber nicht in einem Raum mit den dir drei bekannten Dimensionen.“
„Dimensionen?“
Dimension Eins: Nach vorne und nach hinten, Dimension Zwei: Nach links und nach rechts und Dimension Drei: Nach oben und nach unten.“
Sophie konnte es sich trotzdem nicht vorstellen aber ein Gefühl sagte ihr, dass sie es verstehen könnte, wenn sie nicht so dumm wäre.
„Na gut“, sagte sie nach einer Weile. „Und wo ist das Spiegelbild des Nichts?“
Du hast es vor dir. Dieses leuchtende Netz, ist das Spiegelbild des Nichts.“
„Also, das Universum ist eigentlich Nichts? Es ist eigentlich gar nicht da?“
Natürlich ist es da, du siehst es doch. Das Spiegelbild des Nichts ist ja nicht das Nichts, genau wie dein Spiegelbild nicht du bist.“
„Aber dann ist das Universum also nur ein Spiegelbild und ein Spiegelbild ist… ich verstehe das überhaupt nicht.“
Ich habe dir ja gesagt, dass man das nicht mit Worten erklären kann, jedenfalls nicht so, wie es tatsächlich ist. Du darfst nicht denken, dass irgendwo da draußen ein Spiegel herum schwebt in dem sich das Nichts gerne ansieht und dadurch Universen erschafft.“
Sophie saß wieder auf der Bank. Die beiden Polizisten dachten immer noch über Katzen nach und immer noch waren nur 6000 Sterne am Nachthimmel zu sehen.
Du wolltest wissen, wie ich aussehe. Jetzt weißt du es.“
„Ja, du siehst aus, wie das Universum, was eigentlich nur ein Spiegelbild des Nichts ist…

… es ist nichts.“  

Besuch der Stufe 3 (1)

Niemand beachtete die merkwürdige Wolkenformation am Horizont. Unten zwischen den Häuserschluchten sah sie niemand. Die Stadt lag unter freiem Himmel, so ungewöhnlich türkis und mit dem blassen Mond wirkte es fast nicht real. Doch niemand schien es zu sehen. Trotzdem genossen es viele. Sie saßen auf dem Platz im Schatten der kleinen Bäume, spazierten im nahen Park entlang des Kanals. Auf der Wiese lagen sie in der heißen Sonne, mit Sonnenbrillen, unter Sonnenschirmen und einfach nur so.
Sophie stieg aus dem Bus an der Haltestelle beim Park aus. Sie hatte ihren Schulrucksack noch an aber jetzt legte sie ihn ab auf eine Parkbank. Sie machte ihn auf und holte ihre Hefte und Bücher raus. Sie legte alles auf den Boden, dann drehte sie den Rucksack auf den Kopf und schüttelte ihn. Stifte, eine Schere und zerknülltes Papier fielen heraus.
Gut, sammle Blätter, ja?“
Sophie nickte. Mit dem Rucksack in der Hand lief sie unter den Bäumen und fing an Blätter vom Boden aufzuheben und sie in ihren Rucksack zu legen. Sie sammelte aber nur schöne Blätter, die schon bunt geworden sind. Davon gab es noch nicht viele, weil erst September war, sie fand aber trotzdem welche.
Zwei junge Männer und eine Frau setzten sich auf die Bank und fanden Sophies Schulsachen. Sie hoben sie auf und schauten in die Hefte. Sophie hatte in jedes ihrer Hefte Kreise, Dreiecke und Quadrate gemalt. Die Kreise hatten Gesichter, die Dreiecke und Quadrate waren alle schwarz ausgemalt.
Sophie kam zu ihnen.
„Das sind meine Hefte, aber ihr könnt sie gerne haben, ich brauche sie nicht mehr.“
„Ach ja? Gehst du nicht mehr zur Schule?“, fragte einer der jungen Männer. Er sah vom Nahen viel älter aus und roch nach Alkohol.
Sophie schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“, fragte die Frau.
„Weil meine neuen Freunde mir alles beibringen werden“, antwortete Sophie. „Ich muss ihnen dafür Blätter sammeln.“
Die beiden Männer lachten.
„Wo sind deine Freunde?“, fragte einer von ihnen.
„Sie sind unsichtbar“, sagte Sophie.
Der Mann mit der Alkoholfahne hob ein weiteres Heft vom Boden auf.
„Dann kann ich deine Hefte einfach zerreißen und in den Müll werfen, oder?“ Er riss das Heft in zwei Hälften.
„Hör auf, Walter“, schrie die Frau auf.
Sophie geh weg da, die sind nicht sehr nett.“
„Okay“, sagte Sophie. Sie drehte sich um und ging weg.
„Warte“, rief Walter. Er machte Anstalt Sophie nach zu laufen, wurde aber von der jungen Frau gestoppt. Sie beschimpfte ihn.
„Du bist ein Schwein, Walter – du bist so ein Schwein!“
„Meine Güte, schreit nicht so“, murmelte der andere Mann.
„Er ist so ein Schwein!“
Sophie lief wieder zwischen den Bäumen und suchte Blätter.
Da sind Pilze, die darfst du nicht anfassen, weil sie etwas giftig sind.“
Sophie fand ein großes Ahornblatt. Es war ganz gelb und leuchtete in der Sonne. Sie schaute hoch zum Himmel und hielt das Blatt hoch. Sie konnte fast hindurch sehen.
„Der Himmel ist heute türkis“, sagte sie.
Kauf dir ein Eis, gleich kommt ein Eiswagen vorbei.“
Da erklang auch schon die Melodie des Eiswagens der schnell näher kam und vorbei fuhr. Sophie ließ ihren Rucksack liegen und lief hinter her. Leider war sie nicht schnell genug und der Eiswagen bog um die Ecke und verschwand hinter hohem Buschwerk.
Moment, ich hol ihn zurück.“
Sophie setzte sich ins Gras und musste gar nicht lange warten, da tauchte der Eiswagen auch schon wieder auf und hielt direkt neben ihr.
„Willst du ein Eis?“, fragte der Verkäufer.
Sophie nickte.
„Eine Kugel mit Schokolade und eine mit Erdbeere und noch eine mit Vanille.“
Der Eisverkäufer machte sich an die Arbeit und kurze Zeit später lief Sophie mit einem Eisbecher zurück zu ihrem Rucksack.
Doch ihr Rucksack wurde bereits belagert und zwar vom Walter und seinen Kollegen. Die junge Frau hatten sie anscheinend zurückgelassen. Die beiden waren gerade dabei synchron in den Rucksack zu urinieren.
„Was macht ihr da? Das ist meiner“, rief Sophie.
„Mensch, verpiss dich, wir verrichten hier unser Geschäft“, sagte der Kollege und Walter fing an zu lachen wie ein Pferd das sich verschluckt hat.
„Aber doch nicht in meinen Rucksack!“
Der Kollege packte sein Gehänge ein, drehte sich zu Sophie um und machte einen drohenden Schritt auf sie zu aber Sophie blieb einfach stehen.
„Lass sie“, sagte Walter. Er war auch fertig und legte seine Hand auf die Schulter seines Kollegen. Dieser schüttelte sie aber ab und kam nun schnellen Schrittes auf Sophie zu. Er hob seine Hand und wollte Sophie gerade schlagen, als sein Körper plötzlich erschlaffte, wie ein Plastikbeutel voll Wasser und Pudding und er sang und klanglos zu Boden ging. Walter lachte, glaubte er doch zunächst, sein Freund machte einen Scherz aber der Kollege stand nicht wieder auf.
„Scheiße, Jorge – was ist los?“
„Ist er tot?“, fragte Sophie.
Das spielt keine Rolle, Sophie. Lass sie zurück.“
„Keine Ahnung, Mensch – Jorge?!“
Sophie schaute sich um. Niemand nahm Notiz von ihnen, selbst die Menschen nicht, die auf dem Weg an ihnen vorbei gingen. Einige warfen einen kurzen Blick auf das Elend auf dem Boden, wandten sich dann aber schnell wieder ab. Erst als Sophie etwas irritiert weiter gegangen war, blieb ein Mann stehen, nahm sein Handy und rief einen Krankenwagen. Doch Jorge lebte schon nicht mehr, als sein Körper begann zu Boden zu fallen.

Sophie fand ein neues Ahornblatt. Ihren Rucksack hatte sie zurückgelassen.
„Warum ist der Mann gestorben?“, fragte sie.
Ich wollte nicht, dass er dich verletzt. Mach dir keine Gedanken um ihn. Er hat nur seinen Zustand gewechselt und ist momentan nützlicher als vorher.“
Später, als die Sonne unterging, fand Sophie einen Korb. Sie legte die Blätter die sie den ganzen Tag gesammelt hatte in den Korb.
„Bitte bringe keine Menschen mehr um“, sagte sie, bevor sie sich auf einer Bank am Kanal schlafen legte.

Versprochen.“