Freitag, 5. August 2016

Ein Tag auf dem Platz

Das Auto aus dem letzten Jahrhundert, dachte sie nackt vor dem Spiegel stehend. Ihre Brüste hingen ihr bis zum Bauchnabel. Für einen kurzen Moment war sie beeindruckt von der Dehnbarkeit ihrer Haut. Dann fand sie das Bild wieder ziemlich traurig aber sie hatte gelernt sich trotzdem in die Augen zu sehen, nach 80 Jahren lernt man so etwas. Sie schaute in ihr eigenes Gesicht, ohne Regung, ganz nüchtern, fest, unnachgiebig. Jemand hätte es „stolz“ genannt, jemand anderes.

Draußen ging er durch das lichte Treiben der Menschen ohne sie zu sehen, geführt von seinem Hund. Dunkler Lidstrich auf heller Haut – wer hatte ihm geholfen? Der Hund auch etwa? Auch die schwarzen Fingernägel?

Ein Punk wartet an den Schienen. Milchgesicht.

Sie zog ihr Hemd an, die schwarzen Hosen. Ihre Tochter stand hinter ihr. Sie sah sie im Spiegel. Wenn sie sich doch nur synchron mit ihr bewegen würde. Doch ihr passte nicht, was sie sah und so stand sie nur da, mit verschränkten Armen.

Draußen auf der Straße kniete sich eine Frau im roten Kleid zwischen zwei geparkte Autos.

Der Hund führte seinen Menschen über die Schienen. Der Punk lehnte am Maschendrahtzaun. Seine engen Hosen hatten ausgefranste Beinenden, darunter trug er gelb-weiß-orangene Socken in schweren Boots. Er krallte sich mit beiden Händen am Maschendrahtzaun, lehnte sich nach vorne, lies sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Dann kam der Hund an und setze sich bei Fuß. Der Blinde und der Punk umarmten sich.

Die dunkle Hautfarbe fiel ihr sofort ins Auge, sonst hätte sie die vorbeirauschende Frau vielleicht gar nicht bemerkt. Immer noch kniete sie zwischen den geparkten Autos und ließ den Urin laufen.

Sie durchquerte den Platz auf dem nur wenige Menschen gingen. Dann wusste sie aber nicht mehr wohin sie wollte und blieb stehen. Alle gingen an ihr vorbei und sie beachtete niemanden außer die eine Frau die dann kam. Sie erinnerte sie an eine alte Freundin, alte Erinnerungen erwachten.

Die Frau bemerkte sie, weil sie da stand wie vergessen. Kurz stoppte sie beinahe aber was sollte sie sagen? Ging dann doch weiter.

Endlich fertig. Peinlich. Sie stand auf, zog sich schnell ihren Slip hoch und reihte sich in die Gangrichtung der anderen Wenigen.

Wohin sollte sie nun gehen?

Sie kam bei ihrer Putzstelle an, die Gedanken bei der verlorenen Personen auf dem Platz. Sie kam in die Wohnung. Es war wie immer. Die Mutter saß auf dem Sofa mit einem Glas Wein in der Hand. Der Vater bereitete seine Krawatte in der Küche und war wie immer beschäftigt auch wenn er Kakao trank und die Nachbarin im Garten beäugte. Die Tochter saß auf dem Boden und strickte. Die dunklen Augen schauten kurz auf, lächelten noch viel kürzer. Die Mutter zeigte wo der Staubsauger stand.

Endlich bewegte sie sich wieder, trotzdem, nicht wissend wohin, wozu? Alles umsonst.

Die Promenade war voller an Menschen. Eine Gruppe Jugendlicher trug Schilder mit sich herum und protestierten laut. Polizei war auch da.

Die Mutter redet auf dem Weg zur Tür eine Menge. Ihre Tochter wehrt sie ab, als sie versucht ihr die Jacke zuzuknöpfen. Die Mutter dreht sich von ihr weg und verdreht sie Augen. Der Vater kämmt sich eben noch sein Haar, dann gehen alle aus der Wohnung.

Sie fängt an den Staub zu saugen.

Die Polizisten griffen nun ein und schafften die Jugendlichen in den Einsatzwagen. Sie ließen sich davontragen wie nasse Säcke.

Zwischen den Blöcken ging sie ziellos durch viele Schatten und grelles Licht und der Gedanke aß von ihrer Haut: Das war scheiße!

Sie polierte die Weingläser der Mutter, 6 Stück und alle benutzt. Dann fiel ihr eines zu Boden und zersplitterte, auf dem Boden verteilten sich die Scherben. Was wäre wenn? Sie stieß auch ein zweites Glas herunter und die anderen nacheinander. Was wäre wenn ich nicht mehr putzen würde? Was wäre wenn? Ihr fiel die vergessene Frau ein.

Es war zu heiß, es war zu laut. Und sie musste doch nachdenken. Die Schatten und das Licht wechselten zu schnell. Eine Treppe führte plötzlich in die Höhe und sie stieg hinauf. Oben angekommen schaute sie auf den Platz herunter und auf der anderen Seite auf die Wohnung ihrer Tochter. Du bist weit gekommen…

Die Mutter bedankte sich, übergab das Geld und lächelte dankbar, freundlich. Der Vater lief vorbei in die Küche, um einen Kakao zu machen. Und die Tochter blickte aus ihren müden, wachen Augen auf und lächelte, wie immer, kurz bedeutungsvoll, wissend. Merkwürdig.

Der Einsatzwagen fuhr davon. Der Polizist hinten schüttelte den Kopf. Um ihn herum starrten ihn viele protestierende Augenpaare an.

Sie eilte auf den Platz. Wo war sie?

Sie schrie, einfach nur. Es versuchte sie niemand zu beachten.

Sie stellte sich neben sie. Sie hörte auf zu schreien. Sie legte ihre Hand auf ihre Schulter.


Über ihnen strahlte der Himmel, weil es ein sehr schöner Tag war.  

Trocken Und Staubig

Am Ende des Tunnels gab es Neonlicht von oben.

Friska nahm die Hand des kleinen Mädchens und schritt zum Ende.

Außerhalb regnete es stark.

300 Meter gegenüber des Tunnelausganges saß ein Mann auf einer Bank. Er trug einen weißen Anzug mit schwarzer Krawatte und einen Computer in seinen Händen – und er hatte nichts an.
300 Meter dahinter stand sein Wagen.

Friska und das kleine Mädchen standen am Ausgang und Friska hielt ihre flache Hand in den strömenden Regen.
„Fallout“, flüsterte sie, damit der Mann sie nicht hörte. „Wir bleiben hier, bis es aufgehört hat zu regnen.“
Das kleine Mädchen nickte. Der Mann erinnerte sie an ihren Vater. Sie drehte sich um und schaute in die Dunkelheit. Es kam ein Fahrradlicht auf sie zu.
„Da!“, rief sie.
Friska drückte das kleine Mädchen gegen die Tunnelwand und stellte sich vor sie.
„Keine Angst“, flüsterte die Gestalt auf dem Fahrrad. Er hielt, das Licht ging aus. „Ich bin Ronko von Aubeck aus dem Untergeschoss, ihr erinnert euch?“
Friska schüttelte den Kopf.
„Ronko aus dem Untergeschoss, verdammt?! Ihr habt mir die Eier verkauft!“
Friska nickte.
„Gut, was willst du, Ronko?“
Ronko stieg vom Sattel ab. Er trat aus dem Dunkel ins Halbdunkle.
„Mein Comunicator ist aus gegangen“, erzählte er. Er zeigte Friska sein Gerät. Es war aus.
„Mach es doch wieder an“, sagte Friska.
Ronko verdrehte seine verschlafenen Augen.
„Sag mal, hältst du mich für vollkommen verblödet, oder was?“
Friska hielt ihre Hand in den Regen, ohne Ronko aus dem Untergeschoss aus den Augen zu lassen.
„Okay, Ronko, ich habe echt keine Zeit für dich, wir reden ein anderes Mal.“
Ronko heulte auf wie ein getretener Hund.
„Bitte! Du musst mir helfen, meine kleine süße Jennifer ist auf meinem Comunicator – bitte!“
Friska machte „Psst!“.
„Ist ja gut aber bitte… meine Jennifer!“, heulte Ronko leiser.
„Sie ist ein Programm, Ronko! Sie wird ewig auf dich warten, wenn du willst.“
Ronko lächelte kurz.
„Ja, nicht so wie die Echten! - aber… ich vermisse sie, ich kann nicht ohne sie sein, nicht eine Stunde! Bitte, Friska!“
Friska riss ihm den Comunicator aus der Hand, starrte ihn jetzt wütend an. Er war ein Waschlappen, ganz anders, als sie anfangs gedacht hatte – dieser Ronko aus dem Untergeschoss jetzt.
Fast hätte sie das Gerät fallen lassen. Ronko hielt die Luft an. Sie legte das Ding mit der Akkuseite auf ihre flache Hand. Ronko schaute ihr nickend, mit weit offenen Augen zu, nah dran zu sabbern.
„Sag, Friska… wie lange?“
„Eine Stunde.“
Ronko drehte sich auf dem Absatz um, drehte sich zurück, raufte sich die Haare. Warf seine Arme nach vorne und seufzte. Dann setzte er sich in die Pfütze unter seinen Füßen.
„Friska, der Androide bewegt sich“, sagte das kleine Mädchen.
Friska kniete sich hin und zog das kleine Mädchen mit sich herunter,
„Er darf uns nicht erkennen, du musst jetzt an deine Wand voller Graffiti denken“, flüsterte Friska.
Ronko kam auf allen Vieren zu ihnen.
„Ist das eine Netzwerkwache?“
Friska antwortete nicht.
„Warum steht er da?“, fragte Ronko.
Friska zuckte mit den Schultern und entfernte sich etwas von Ronko, der ihr etwas zu nahe gekommen war. Er bemerkte es und grinste und bekam einen bösen Blick geschenkt.
„Du weißt, was ich mag“, flüsterte er.
„Und du stinkst nach Kohl“, sagte sie.
Das Grinsen verschwand aus Ronkos Gesicht.
„Was erzählst du? Ich habe… habe geduscht.“
„Wann?“
Ronko schnaubte zur Antwort.

Jemand trat eine Dose. Sie flog lange durch die Luft, denn es verging eine Ewigkeit bis das scheppernde Geräusch ihres Aufpralls zu hören war.

Friska legte sich flach auf den Bauch und robbte wie einer dieser Soldat bis zum Rand des Tunnelausganges und dabei dachte sie mit allen Sinnen an die chinesische Mauer in all ihrer Pracht. Nur in dem Bruchteil der Sekunde, in dem sie den Jungen auf dem leeren Parkplatz erblickte, nicht. Für die Netzwerkwache eine halbe Ewigkeit.
„Friska von Turm Einhundertundeinundachtzig aus der hundertdreiunddreizigsten Etage – du bist enttarnt – stelle dich jetzt!“
Ronka sprang auf und rannte in die Dunkelheit des Tunnels, lauthals schreiend, wie ein Irrer: „Tut mir Leid, Jennifer!“
Die Netzwerkwache kam mit zunehmendem Tempo auf den Tunnelausgang zu. Friska griff wie aus Reflex nach dem Fahrrad, packte es und warf es mit Wucht dem ankommenden nackten Mann entgegen, der nun fast die Geschwindigkeit eines Geparden erreichte.
„Lauf!“, schrie Friska.
Das kleine Mädchen sprang nun auch auf, da sie bisher erstarrt auf dem Boden sitzen geblieben war. Sie rannte los, Ronkos Spuren hinterher.
Die Netzwerkwache kam an. Das Fahrrad hatte ihr die Wange aufgerissen - nun sah sie mit dem freiliegendem Gebiss und dem künstlichen Blut aus, wie ein Ungeheuer. Friska schrie nur kurz auf, als er sie an den Schultern packte und sie mit knapp 60 Stundenkilometern gegen die Wand hinter ihr rammte. Das Licht hinter ihren Augen erlosch.

Draußen hatte es zu regnen aufgehört. Vor dem Tunneleingang lag ein verbogenes Fahrrad. Der Junge starrte dem nackten Mann hinterher. Er hatte sich rücklings von ihm entfernt aber der Mann marschierte einfach an ihm vorbei ohne ihn zu beachten. Dann trat er auf seine Dose und plättete sie so flach wie eine Dampfwalze.

Im Tunnel lag Friska zerstört am Boden. Das kleine Mädchen näherte sich aus der Dunkelheit.
„Friska?“
In ihrer Hand hielt sie noch immer Ronkos Comunicator. Das Gerät war an.
„Friska?“

Der Junge stand im Tunnelausgang.

Das Display blinkte auf.
„Ich bin noch da“, sagte Friska.
Das kleine Mädchen stand auf.

„Bist du eine Ratte?“, fragte der Junge.

„Nein.“