Montag, 30. Mai 2016

Video

Sie nahm den Schlüssel aus der Seitentasche ihres Rucksacks und schloss die Tür auf. Im Flur zog sie sich die Schuhe aus, ging in ihr Zimmer, legte die Tasche aufs Bett und setzte sich an den Schreibtisch. Sie machte ihren Computer an und wartete einen Augenblick bis das System hochgefahren war. Sie meldete sich an, stand wieder auf und nahm den Camcorder vom Regal über ihrem Schreibtisch.
Draußen brannte die Sonne auf die Plattenbauten und die einfachen Parkanlagen darum. Man hörte das Rauschen der Stadt, etwas Wind und ein schwarzer, großer Vogel landete auf Beton, um einige Schritte zu machen, um dann wieder davon zu fliegen. Er verschwand in einem Baum.
Jemand machte eine Balkontüre auf. Eine Frau stellte einen Plastikeimer raus und verschwand still im Schatten ihrer Wohnung. Die Hitze machte ein eigenes Geräusch, wie das Rauschen der Stadt.
Sie hatte den Camcorder an ihren Computer angeschlossen und vor sich aufgebaut. Dann sah sie ihr Gesicht in einem Fenster auf dem Display. Sie fing an zu reden und mit ihren Händen zu gestikulieren. Nach einer Weile stand sie auf zwinkerte in die Kamera, schob den Stuhl weg, damit die Kamera freie Sicht auf sie hatte, als sie sich mitten im Zimmer hinstellte und einen Handstand machte. Dann kam sie wieder näher heran und plapperte fröhlich. Und dann entfernte sie sich wieder und machte einen Radschlag.
Die Wohnungstür ging auf und eine Frauenstimme rief etwas und sie rief zurück, plapperte wieder in die Kamera, zwinkerte und wieder rief die Frauenstimme etwas. Sie verdrehte die Augen, lächelte, sagte etwas und kicherte, dann verschwand sie für eine Minute. Als sie zurück kam hatte sie zwei Zuckerstangen (oder so etwas in der Art) in beiden Händen und tanzte damit wie ein Ninja mit zwei asiatischen Schwertern. Wieder redete sie in die Kamera, sie schien etwas über die Süßigkeiten zu erzählen und sie hatte viel zu sagen, selbst über das durchsichtige Plastikpapier in das die beiden Stangen eingepackt waren.

Norwegen. Er wachte zum zweiten Mal auf, vorhin konnte er sich nicht dazu bewegen aufzustehen. Er setzte sich im Bett auf. Sein Tablet-Computer fiel von seiner Brust. Er machte ihn an und tippte das neueste Video von Mikhailova an. Was sie sagte, wusste er nicht wirklich aber er konnte es sich fast vorstellen. Sie machte einen Handstand, einen Radschlag und dann kam sie mit Zuckerstangen (oder so etwas in der Art) und tanzte. Diese Zuckerstangen gab es hier nicht.
Er stand mit dem Tablet in den Händen auf und ging blind durch den Flur, seine Augen unentwegt auf das Display gerichtet. Im Badezimmer stellte er sich vor den Spiegel. Das Video war zu ende. Thumbs up!

Draußen schien auch hier die Sonne. Häuserreihen bildeten mit ihren kurvigen Straßen einen frischen Wohnpark. Niemand zu sehen.

Er stellte seinen Tablet-Computer vor dem Spiegel auf, um mit der internen Kamera ein Video aufzunehmen. Er begrüßte seine Fans im Netz und erklärte einige Dinge. Er wusch sich vor laufender Kamera sein Gesicht, zuerst mit Wasser, dann mit einer speziellen Seife (die er vorher auch erklärte) und schließlich mit einem Wässerchen aus einer Kristallflasche. Er puderte sich sein Gesicht, verwendete Make-up, Eyeliner und plapperte während dessen sehr viel.
Ob er sich später wieder abschminkte, bevor er das Haus verließ, würde in seinem Video nicht mehr zu sehen sein aber wahrscheinlich verließ er das Haus ohnehin nicht. Es war Wochenende.

Frankreich. Sie tippte das Video von Hedge Hog an. Er grüßte und sie grüßte sehr glücklich zurück, dabei konnte er sie gar nicht hören, es war ja nur eine Aufnahme. Sie küsste immer wieder ihren Tablet, wenn er direkt in die Kamera blickte. Nachdem das Video zu ende war lud sie es herunter, um es anschließend auf ihrem eigenen Account zu veröffentlichen, auf dem bereits all seine anderen Videos zu sehen waren neben Videos von Menschen aus aller Welt, Menschen die sie liebte, mal geliebt hatte oder immer mal wieder liebte.

Japan. Er untersuchte das Video-Portal-Profil, manchmal waren auch E-Mail Adressen zu finden, Links zu anderen Account auf denen Links zu anderen Accounts zu finden waren auf denen Links zu Freunden waren. Er kannte manchmal Menschen die auf der anderen Seite der Welt lebten besser, als seine eigenen Kinder.


Die Wohnung wurde ihm manchmal zu eng obwohl sie für tokioter Verhältnisse relativ groß war. Draußen regnete es. Er wusste nicht welche Stadt in der Vergangenheit nicht japanische Hauptstadt gewesen ist und der Mann im Fernsehen in einer Quizsendung auch nicht.  

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