Donnerstag, 6. September 2012

HyperFutureVision (1)


Eigentlich hätte der Kaffee schon fertig sein müssen. Er musste sich beeilen, irgendwie wurde ihm bereits etwas schwindelig. Er warf sich einen halben Zahntab ein und nahm einen Schluck Wasser und hielt den Mund geschlossen, während sich der Tab auflöste und in seinem Mund zu schäumen begann. Aus Gewohnheit griff er nach seinem Rasierapparat, da fiel ihm ein, dass er sich nicht mehr zu rasieren brauchte. Mit der Hand strich er über seine glatte Wange und lächelte. Er schluckte den Schaum im Mund hinunter, legte seinen Finger auf den Blutzucker-Tester und wartete das Ergebnis ab. 214 mg/dl, etwas hoch für seinen Fall – er musste endlich seinen Kaffee haben.
Im kleinen Wohnzimmer mit Wandküche dampfte bereits eine fertige Tasse. Er nippte vorsichtig an ihr, dann machte er die Kühlschranktür weit auf.
„Es fehlen: 
Gouda von Biofarm, Biofit-Produkt,
Salami von Genzer, Biofit-Produkt,
Senf von K und K. 
Möchten sie die Produkte bestellen?“ 
„Ich gehe heute selbst einkaufen“, murmelte er.
Seine Tasse stellte er auf den Tisch vor dem Sofa und setzte sich. Der Fernseher ging an.
„TiVi, Kanal Phönix“, sagte er.
In den Nachrichten kam nichts Neues, immer wieder die selben Bilder. Staubige Gebäude dienten als Kulisse für ein körniges Video und Soldaten die man kaum erkennen konnte. Beliebt waren auch Nachtaufnahmen einer bombardierten Stadt. Man sah nur viele kleine Lichter und zwischendurch leuchtete etwas helleres kurz auf.
„Sie haben Post“, kündete TiVi an.
Er nahm einen weiteren Schluck von seinem Kaffee. Langsam kam er zu Kräften und seine Lebensgeister erwachten. Der Tag konnte also beginnen.
„Tivi, Lese Post Betreff“, sagte er.
„Im Posteingang liegen drei ungelesene Mails: 
Mail von gestern 17 Uhr 33, Betreff: Hi,
Mail von gestern 18 Uhr 45, Betreff: Unisoft,
Mail von gestern 23 Uhr 12, Betreff: Dienst.“ 
Er seufzte. Nichts wichtiges also.
„Tivi, Lese Mail mit Betreff Dienst“, sagte er.
„Mail von gestern 23 Uhr 12 mit Betreff Dienst:
Hallo Lukka,
hier sind deine Dienste für nach dem Urlaub.
Schönen Urlaub noch – Kiara.
Mail enthält einen Anhang im t x t Format.“
„Tivi, sende Anhang nach Lukka2801“, sagte er.
„Anhang von Mail mit Betreff ….“
„Tivi, tschau“, unterbrach er.
„Bis später“, verabschiedete sich Tivi und ging aus.
Er stand auf, um sich eine Jacke umzuwerfen, setzte sich auf dem Boden hin und streifte die neuen Turnschuhe über. Er hielt inne. In weiter Ferne irgendwo donnerte es gewaltig. Er stand auf und ging zum Fenster, die Rollladen rollten hoch. Die aufgehende Sonne biss ihm in die Augen. Die Stadt breitete sich vor ihm aus, wie ein unendlicher Haufen Betonkacke in dem es sich ekelhaft regte, kräuchte und fläuchte.
„Ich gehe jetzt einkaufen“, ermahnte er sich.
Er nahm die Hausschlüssel von der Mikrowelle und steckte sie in seine Jackentasche. Und bevor er die Tür öffnete nahm er noch einmal tief Luft. Jetzt stand er schon mal in dem langen, gebogenem Flur – hinter ihm ging die Haustüre ins Schloss. Er machte sich auf dem Weg zu den Liften. Zu seiner Linken bestand die Wand aus einem gewölbten Glas das vom Boden bis zur Decke reichte. Manchmal fühlte man sich, wie in dem langen Bauch einer gläsernen Anakonda. Er konnte auf den Südteil des Beton- und Glasfeldes unter sich blicken. Es gab kein Ende.
Ein Flugzeug nahm Landeanflug auf den Flughafen Gates und gäbe es ein Fenster das er hätte öffnen können, so hätte er auf die Maschine runter spucken können. Er kam an den Liften an und musste warten. Hier endeten seine Reisen vorwiegend, denn während er wartete überlegte er es sich oft anders und kehrte um. Oder er trieb ihn zu den Aussichtsplattformen. Dort verbrachte er manchmal seine Tage, wenn nicht allzu viel los war. Am liebsten saß er an See One, die anderen wurden zumeist von Familien mit Kleinkindern beansprucht, weil man in ihnen baden konnte und sie nicht allzu tief waren.
Er stieg in einen leeren Lift ein und setzte sich auf einen Sitz direkt neben dem Glas mit dem Bedienfeld. Er berührte das Glas an der Stelle wo „Ausgang“ in mehreren Sprachen flimmerte und der Lift setzte sich in Bewegung. Das Bedienfeld zeigte auch die momentane Höhe des Liftes an – 1876 m – und er vertrieb sich jedes Mal die Zeit damit zu beobachten wie die Zahl immer kleiner wurde während der Lift in die Tiefe stürzte. Es dauerte oft bis zu einer halben Stunde, bevor man unten ankam und die Arkologie verlassen konnte.
„Goliath – Geschäftszentrum“, verkündete der Lift mit einer freundlichen aber sehr künstlichen Stimme. Dann ging es weiter.
„Goliath – Freizeitpark und Geosphären.“
Und weiter ging es. Eine alte Frau stieg beim nächsten Halt hinzu.
„Goliath – Medizinisches Zentrum.“
Der Lift raste dem Boden entgegen. Die alte Frau legte ihre knochige Hand auf ihre Brust und atmete einige Male durch. Sie bemerkte, dass er sie besorgt ansah und schenkte ihm ein beruhigendes Lächeln. Er lächelte zurück.
„Goliath – Bahnhof – der Lift endet hier.“
Er folgte der alten Dame aus dem Kasten in eine gigantische Halle, in der mehrere Kathedralen Platz gefunden hätten. Hier trieben Menschenmassen in gewaltigen Strömen entweder in die eine Richtung oder in die andere. Eine Magnetbahn hielt an einem Gleis in der Nähe. Er blickte zurück. Der Lift war schon weg.
„Okay, ich kaufe nur einige Sachen ein … mal sehen was.“
Zu seiner rechten sprach ihn das Bild einer hübschen Frau an.
„Hey, Lukka2801! Was machst du heute?“
Es war eine überdimensionale Werbetafel, die offensichtlich für irgendein Nachtclub warb, denn die Frau hielt eine eiskalte Flasche mit Zitronenbier oder so etwas in der Art in ihrer Hand und hinter ihr tanzten bunte Menschen mit ausgefallenen Accessoire (nebensächliche Zubehörteile).
„Treffen wir uns im Bakku-Club? Bring deine Freunde mit!“
Sie wandte sich lässig von ihm ab und begann zu tanzen, dann zersprang das Bild in tausend Teile und regnete auf ihn herab. Und schon war es vorbei. Als nächstes tauchte ein seriöser Mann auf dem Bild auf. Hinter ihm prangte das übergroße Banner von Phönix, seinem Lieblingssender.
„Guten Tag, Lukka2801, schauen sie doch gleich mal nach unseren neuesten Beiträgen die wir für sie zusammen gestellt haben – wir freuen uns auf ihre Kommentare.“
Er ging weiter. Wieder musste er in einen Lift, dieses Mal dicht gedrängt inmitten von Anzügen, schnatternden und übertrieben gut-riechenden Mädchen und anderen merkwürdigen Gestalten. Es ging aufwärts, zur Zugangsbrücke zu den Gleisen. Weit über sich bemerkte er noch mehr Werbetafeln, die von der Decke hingen und tolle Sachen anpriesen.
„Der ist süß“, sagte eines der Mädchen im Flüsterton jedoch so laut, dass es auch ja jeder im Lift mitbekam. Er schaute hinunter auf drei Magnetbahnen, die wie weiße Schlangen, tot und in Rillen gequetscht darauf warteten mit Maden jeder Hautfarbe gefüllt zu werden. Dann erwachte eine von ihnen zum Leben und bewegte sich langsam aus der Halle ins Sonnenlicht. Der Lift hielt.
Er hörte, wie eines der Mädchen ihm einen lauten Knutschlaut nach warf, bevor er die Rolltreppe zu Gleis 36 nahm. Am unteren Ende wurde er von Jugendlichen mit lauter Musik, die aus einem Kommunikator in der Hand eines Irokesen stammt, empfangen. Sie wippten leicht mit ihren Köpfen zum Takt der Musik, der schwer zu ermitteln war, da die Musik anscheinend aus einigen hundert Tracks bestand.
Als er an ihnen vorbei ging sahen sie ihn an, als wollten sie ihn zu irgendetwas herausfordern aber er wusste, sie wollten gar nichts.
Yo“, sagte ein Mädchen mit Glatze, als sich ihre Blicke trafen. Er nickte ihr nur zu. Erst als er vorbei war drang ihr Bild so richtig zu ihm durch. Ihr hatte ein Ohr gefehlt – das Linke. Sie hatte sich einen dicken Pfeil auf ihre Kopfhaut tätowiert und dieser Pfeil zeigte auf die Stelle an der sie einst Mal ein Ohr gehabt hatte.
Hm“, machte er. Das musste einer dieser Menschen gewesen sein, die nichts von Prothesen und Human-Erweiterungen hielt. Viele von ihnen trugen ihre Behinderungen offen zur Schau aber eigentlich konnte er sich auch nur irren. Seine Bahn hielt neben ihm, so leise und jeh wie ein Luftzug. Er stieg ein. 

da schreibe ich noch mehr :) 

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