Montag, 3. Oktober 2011

Der Geisterzug


Als ich wach wurde lag ich auf dem Boden und gefrorenes Gras kitzelte meine Nase. Mir war sehr kalt da ich bloß ein langes Nachthemd an hatte. Dazu wehte eine eiskalte Brise von vorne. Ich lag direkt neben einer Schiene und die Schienen, so sah ich, endeten nicht. Ich hatte meinen Kopf gehoben, das frostige Gras klebte am Nachthemd, als ich mich steif aufzusetzen versuchte. Meine Muskeln fühlten sich an, als hätte mich jemand aus einem fahrenden Zug gestoßen. Und in dem Moment als ich auf die Knie kam und wankend das Gleichgewicht zu halten versuchte hörte ich das Rollen von Stahl auf Stahl. Die Bahn kam!

Ich drehte mich, immer noch versteift, nach hinten um. Der Zug kam näher und die drei Lichter am Führerhaus wurden größer und erhellten mich – man würde mich sehen können. Ich versuchte auf die Beine zu kommen die ich kaum noch spürte. Mit den knöchernen Armen stützte ich mich am harten Erdboden ab und drückte mich auf. Ich machte einige unsichere Schritte rückwärts in halb gebeugter Haltung, um nicht nach hinten auf den Rücken zu fallen. Das Klackern donnerte im nächsten Augenblick an mir vorbei und eine Melodie der Elektrizität lies mein Trommelfell vibrieren. Ich schnappte tief nach Luft, um zu schreien, als mich in nächster Sekunde das Bremsgeräusch zusammenfahren lies. Die Bahn hielt!

Der letzte Waggon rollte an mir im Schritttempo vorbei, dann stand alles still. Ich hob meine kalten Füße nacheinander über den Schienenstrang und setzte sie vorsichtig auf die Planke dazwischen. Humpelnd bewegte ich mich dann auf die offene Türe zu durch die ich über eine Sprossenleiter gelangte und schließlich im hintersten Waggon stand – im Warmen. Es befand sich niemand hierin und so humpelte ich einige Schritte durch den Gang und lies mich erst einmal in eins der Sitze nieder. Meine Füße hob ich aufs Sitzpolster und zog die Beine eng an meine Brust. Meinen Kopf legte ich auf den Knien ab und schloss meine Augen...

Mit einem Ruck setzte sich die Bahn wieder in Bewegung und ich schreckte aus einem Minutenschlaf auf. Oder ist mehr Zeit vergangen? Draußen war es dunkel und ein violettes Licht erhellte die Tundra in der ich wach geworden bin. Mein Körper war bereits einigermaßen aufgetaut aber jetzt taten mir alle Finger und Zehen weh – sie brannten geradezu, als würden sie im Feuer schmoren. Dennoch fand ich die Kraft mich näher ans Fenster zu schieben und hinaus zu blicken. Ein groteskes Panorama bot sich mir dar, obgleich es nichts außergewöhnliches daran gab, abgesehen von dem violetten Licht, welches vom Vollmond oben am Himmel auszugehen schien.
Der Zug rollte durch eine Wüste aus Geröll und vereinzelten Sträuchern. Am Horizont, aber meilenweit weg, waren kantige Berge zu sehen und dahinter schien eine Metropole den Himmel zu erhellen. Das eigentlich komische war jedoch, dass diese Tundra kein Ende zu haben schien. Die Berge weit am Horizont wollten nicht vorbei ziehen und dem Zug voraus schienen die Schienen im dunklen Himmel zu verschwinden und... hatte ich diesen verkümmerten Baum nicht schon vor einer Minute vorbei rauschen sehen?

Ich wischte den Tropfen mit dem Ärmel von der Nase und stand auf. Ich musste jemanden fragen, wo es eigentlich hin ging. Im Grunde war es bedeutungslos, da ich nicht mal wusste wer ich eigentlich bin. Dennoch, vielleicht würde ich mich erinnern können und ich musste, denn was auch immer passiert ist, freiwillig habe ich mich nicht aus dem Zug geschmissen, um eine Nacht bewusstlos in der Tundra zu verbringen.
Ich schob die Tür zum vorletzten Waggon auf, ging durch den kleinen Zwischenraum und machte die nächste Schiebetüre auf. Hier war es noch einmal so warm, wie im Letzten. Ich spürte sofort meine Lebensgeister zurückkehren und die Schmerzen in den Gliedmaßen ließen nach. Doch auch dieser Waggon schien leer. Es rührte sich nichts. Mir kam die Frage, warum man sich nicht um mich kümmerte – immerhin fand man mich in einem erbärmlichen Zustand vor und hielt extra für mich? Die Bahn wurde langsamer!

Ich nieste laut und eine Menge Perlen flogen durch die Luft, alle, wie aus einer Kanone geschossen und der Luftwiderstand ließ sie wie eine Wolke aussehen. Ich runzelte die Stirn – die kleinen Perlen sanken wie durchsichtige Fallschirme zu Boden – dann machte ich einen Schritt zurück. Ein komisches Gefühl der Panik stieg langsam in mir hoch. Es passierte etwas, doch ich wollte... ich traute mich nicht zu erfahren, aus welchem Grund ich dieses Gefühl plötzlich hatte. Um mich begann es zu vibrieren, die Sitze begannen zu knarren und des Zuges Gerüst ächzte bedrohlich. Die Panik war in meinem Hals angekommen und schnürte mir den Zugang zu den Lungen ab, während mein Atmen immer flacher und schneller wurde. Und die Bahn neigte sich zur Seite!

Ich fing an zu schreien, verlor den Stand unter den Füßen und im Fall versuchte ich mich zu drehen. Der Waggon fuhr mit knapp 40 Grad Neigung an einem Abgrund vorbei und ich setzte dem noch eins Drauf indem ich mit meinem Gewicht auf die Scheibe knallte und mir die Lippen aufschlug – das Glas hielt stand. Unter mir sah ich dunkle Tannenwälder in hundert Metern Tiefe. Ich krallte mich am Kopfpolster des Sitzes am Fenster fest und schrie weiter. Ich schrie, bis mir die Luft ausging und die Panik drückte mir immer noch die Luftzufuhr ab und mein Herz hatte bald mehr Sachen drauf, als jedes Auto auf der Autobahn. Dann kam es noch schlimmer – das Glas bekam Risse. Ich konnte meine Arme nicht vom Sitz lockern , sie waren zu Stein erstarrt, genau wie meine Beine. Der Riss zog sich mit einem Mal, so schnell wie ein Blitz, quer durch die Scheibe und entlang der Linie wurde das Doppelglas weiß. Ich schrie weiter. Dann nahm die Neigung langsam wieder ab und zunächst bemerkte ich es nicht. Ich hatte die Augen geschlossen und bereit den Sitz den ich umklammerte mit in den Tod zu nehmen, wenn es sein müsste. Irgendwann spürte ich Sonnenlicht auf meinem Gesicht und blinzelnd öffnete ich meine Augen wieder. Die Bahn fuhr wieder durch die Tundra, als hätte es den Abgrund nie gegeben!

Es war Tag. Die Sonne schien mir durch das kaputte Fenster in mein Gesicht. Ich tupfte mir mit dem Kragen meines Nachthemdes die Lippen ab. Sie waren ziemlich geschwollen, aber wenn das Blut nicht wäre würde es sicher scharf aussehen. Da erinnerte ich mich sogar an einen Jungen aus meiner Klasse... aber, dass ist eine andere Geschichte und wird wahrscheinlich nicht erzählt werden.
Ich dachte ja bis zu dem Zeitpunkt, der Waggon wäre leer, jedoch hatte ich mich getäuscht. Ich hörte nämlich eine Papiertüte rascheln. Hatte ich etwa jemanden übersehen? Ich stand auf und schlich durch den Gang zwischen den Sitzen zurück, wobei ich jede Sitzgruppe gründlich inspizierte, als suchte ich nach einem Unsichtbaren. Derjenige war aber keineswegs unsichtbar und zu meiner Erleichterung ein freundlicher, alter Mann. Er kramte mit einer Hand in einer Tüte mit gebrannten Mandeln und hielt in der anderen ein Prospekt mit einer großen Überschrift: „Die Bahn“!

Ich räusperte mich.
Wieso schreien sie so?“, fragte er, ohne auf zusehen. „Man könnte meinen, sie sind in Lebensgefahr.“
Ich sah ihn eine Weile an. Seine Stimme erinnerte mich an die meines verstorbenen Opas auf dessen Beerdigung ich noch vor kurzem war. Und als ich nicht antwortete fuhr er fort, nachdem er eine fette Mandel aus der Tüte gefischt hatte.
Was sehen sie mich so an? Kennen wir uns?“
Ich schüttelte den Kopf. Fettige blonde Strähnen fielen mir vor die Augen – ich strich sie angewidert weg und versuchte sie vom Kopf zu reißen, als mir schnell klar wurde, dass es meine eigenen waren. Ich atmete, erschrocken starrte ich den Alten an, immer noch meine Haare in der Faust haltend. Sein Blick traf meinen.
Sie sind komisch, wissen sie das?“
Ich nickte langsam und schüttelte dann heftig den Kopf.
Nein, ich....“ Er lies mich nicht ausreden.
Verstehst du was von Biologie, mein Kind?“
Ein Ruck des Zuges lies mich in den Sitz fallen.
Nein, ich....“
Verstehen sie nichts von Biologie?“
Doch, ich... ich....“
Er lies sein Prospekt sinken.
Ja, was denn nun?“
Er hob die Augenbrauen und blickte meinen Hals an, oder etwas, dass dort war. Meine Hand schnellte herauf und fuhr am Hals entlang. Ich konnte nichts ungewöhnliches ertasten und der alte leckte sich die Lippen, was mich auf einen anderen Gedanken brachte.
Du hast da Blut, mein Kleines“, schnarrte er und lies die Tüte mit den Mandeln sinken.
Ich hab mir meine Lippen... ich hab... ich....“ Er erhob sich halb und seine Augen waren fest an meinem Hals fixiert.
Bewege dich bitte nicht“, flüsterte er und langte mit beiden Armen nach mir und ich schrie schrill auf -

Ich warf mich zur Seite, halb in den Gang raus und rammte ihm meine Füße mit Wucht ins Gesicht. Er lies ein Knurren das aus seinen Tiefen kam vernehmen, gefolgt von einem Schmerzensschrei. Er taumelte, sich das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, gegen das Fenster hinter ihm und sank jammernd zu Boden. Ich rappelte mich in der Zeit auf und hechtete auf allen Vieren den Gang lang bis zum Durchgang in den nächsten Waggon. Ich schob sie halb auf und zwängte mich in den Zwischenraum. Hier hatte der Boden ein Loch und ich war dabei durch zu fallen. Ein letzter Schrei noch – instinktiv versuchte ich mich auf den Rücken zu drehen, zog meinen Hals zwischen die Schultern und wurde in die Höhe gerissen. Der Schaffner der Bahn!

Was zum Teufel fällt dir ein, da rein zufallen?“
Er hatte mich beim Kragen gepackt und hielt mich nun auf seiner Augenhöhe hoch. Ich hing an seiner Pranke, wie ein Kätzchen im Maul seiner Mutter. Und sein großes Gesicht guckte streng und wartete meine Antwort ab.
Ich wo- wollte da nicht rein fallen, eh- ehrlich nicht“, stammelte ich und lies mich hängen.
Mit seiner anderen Hand öffnete er die Türe zum ersten Waggon hinterm Zugwagen und mich in seiner Pranke weit von sich haltend, wie ein abscheuliches Tier, betraten wir eine völlig andere Atmosphäre. Hier schauten mich mindestens ein Dutzend Augenpaare an und der Raum war erfüllt von flüsternden Stimmen und dem Geruch von gebratenem Fleisch. Musik spielte aus den Lautsprechern an der Decke und von irgend woher hörte man sogar ein fröhliches Lachen.
Schaut!“, kündete der Schaffner, „Das hier, habe ich soeben am Stadttor gefunden.“
Ein Junge in meinem Alter lachte auf.
Kann man es braten? Da sind bloß Knochen dran!“
Mein Herz begann zu rennen und ich bat eine höhere Macht an, dass sie machen sollte, dass es nur ein Scherz war, dass sie machte, dass sie nicht gegessen werden würde.
Stell sie doch mal auf dem Boden ab“, sagte der Junge dann.
Der Schaffner lies mich los und ich fiel hin und schlug mir die Knie auf. Aber ich stand sofort wieder auf, auch wenn es in meinen Gelenken hörbar knackte.
Wo kommst du her?“, fragte der Junge. Eine alte Frau in einem grauen Mantel und einer verwelkten Rose im dauergewelltem Haar nickte begierig.
Ja, ja, wie bist du her gekommen, erzähl!“
Ich blickte die Zwei mit großen Augen an.
Ich weiß gar nicht... ich lag in der Tundra“, murmelte ich vor mich hin und machte eine Bewegung hinter mich, um zu zeigen wo ich ungefähr herkam.
Wie bist du gestorben?“, fragte der Junge mit einer Stimme, als müsste er deutlicher werden. Ich hörte ihn nur noch dumpf...

2 Kommentare:

Wilma hat gesagt…

lucca, wie geht es dir?
kannst du dich melden?

BSarna hat gesagt…

war,ist,was wird,,,